„Mit WLAN-Netz Shiva verbunden“.
Eine Reise zum Herzen der Welt.
Heute hatte ich mich spontan entschlossen, in die Bibliothek
zu gehen und nach einem Buch zu suchen, auf das ich dort vor etwa zwei Jahren
gestoßen bin und dessen Titel „Ramana Maharshi. Sei was Du bist!“ lautet. Als
ich begann, das Buch an der Stelle weiter zu lesen, an der ich damals aufgehört
hatte, gingen mir viele Erinnerungen an eine lange Reise durch den Kopf, die
mich zu einem heiligen Berg auf dem indischen Subkontinent geführt hatte. Ich
erinnerte mich ebenfalls, dass ich, als ich das Buch zum letzten Mal las,
dachte, wie gerne ich nach Indien reisen und dieses fremde Land mit meinen
eigenen Augen sehen wollen würde. Diesen Gedanken hatte ich jedoch sogleich
verworfen. Ich war in Deutschland. Wie sollte ich jemals das Geld und die Zeit
haben, um nach Indien zu reisen? Ich gab das Buch zurück und vergaß es. Hätte
mir jemand vor zwei Jahren gesagt, dass ich nach Tiruvannamalai[2] in
Südindien reisen, und David Godman, den Herausgeber des Buches persönlich
interviewen würde, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Und als ich durch das
Tor des „Sri Ramanashramam“[3] ging, konnte ich es immer noch nicht fassen.
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Der heilige Berg |
Die Vorgeschichte
Zuvor hatte ich seit Ende Juli in der ehemaligen französischen
Kolonie Pondicherry zusammen mit fünf weiteren Kommilitonen der Abteilung
Ethnologie der Eberhard Karls Universität Tübingen einen Sprachkurs in Tamil[4]
absolviert. Wir waren nicht die einzigen Studenten aus Deutschland. Auch drei
Kommilitonen aus Heidelberg hatten sich für den Kurs angemeldet, an dessen Ende
wir eine gute Beziehung zu einander aufgebaut hatten. Unter den Teilnehmern
waren des Weiteren eine japanische Tamilexpertin, ein Chinesischlehrer aus
Lissabon, ein polnischer Sanskritspezialist, ein österreichischer
Altorientalist und ein französischer Abenteurer, welcher sich nach vielen
Reisen in Südamerika und Asien, in seinen Sechzigern nochmal dazu entschlossen
hatte, neu anzufangen und zu studieren. Ebenso wie die Kursteilnehmer hätten auch
die Lehrer, ein Katholik, ein Hindu, ein Atheist und ein Freidenker aus
Auroville[5],
unterschiedlicher nicht sein können und dennoch ergänzten sie sich gegenseitig
auf eine ausgezeichnete Weise. Sie spiegelten meiner Meinung nach das
multireligiöse Zusammenleben der Stadt wieder und ich meine, dass ich von Ihnen
vielleicht noch mehr über das Leben in Tamil Nadu[6] als über
die Sprache an sich gelernt habe. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sie
wirklich beeindruckende Persönlichkeiten waren, die meinen Horizont erweitert
haben. Der Sprachkurs selbst war durch den ständigen Wechsel von
Unterrichtseinheit und Lehrpersonal, sowie genügend Pausen sehr effektiv
konzipiert und das gemeinsame Teetrinken nach dem Unterricht, wie auch die
verschiedenen Unternehmungen hatten einen sehr positiven Einfluss auf das
Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb des Kurses. Ich kann daher jedem, der an
der tamilischen Sprache und Kultur interessiert ist, den Kurs sehr empfehlen.
Ich will jedoch hier nicht weiter auf die Zeit in
Pondicherry, noch über meine Reisen zu den anderen Städten Tamil Nadus
eingehen, denn die Erlebnisse, die ich dort machen durfte, würden selbst ein
ganzes Buch füllen. Auch über meinen fünfwöchigen Aufenthalt am Arunachala kann
ich in diesem Blog nur zusammenfassend eingehen, da die Eindrücke für die kurze
Zeit derart intensiv waren, dass ich sie nicht alle wiedergeben kann. Ich bitte
den Leser daher, dies zu entschuldigen.
Die Reise
Nach Beendigung des Kurses reisten also zwei Kommilitoninnen
aus Heidelberg, ein Kommilitone aus Tübingen und ich nach Madurai und zuletzt
nach Chennai, das ehemalige Madras, bevor jeder seinen eigenen Weg ging. Am
13.09.2015 brach ich von dort planmäßig nach Tiruvannamalai auf. Der Bus
schaukelte durch die Schlaglöcher wie ein Schiff auf hoher See hin und her (Wer
nach actiongeladenen Reisemöglichkeiten mit musikalischer Untermalung sucht,
wird das Busfahren in Indien lieben.). Ich war vom Reisen erschöpft und fiel
zwischendurch in einen Halbschlaf, während Menschen und Städte an mir vorüber
zogen. Als ich wieder munter wurde, begann es zu dämmern. Gegen den roten
Horizont ragte aus der Ebene eine einzige gewaltige schwarze Spitze empor, auf
die der Bus geradewegs zusteuerte. In dem Moment kamen in mir Assoziationen an
eine Reise zu einem mythischen Ort am Ende der Welt auf. Zu dem Zeitpunkt
wusste ich nicht, dass es der Arunachala[7] war, der
sich gegen die untergehende Sonne erhob und dass dieser Berg für einige
Menschen, die ich in den nächsten Wochen kennen lernen sollte, tatsächlich ein
solch mythischer Ort ist.
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Der erste Schrein |
Die Ankunft
Als der Bus im Busbahnhof in Tiruvannamali anlegte, war es
bereits dunkel. Ich nahm eine Rikscha und fuhr zum „Sri Ramanashramam“. Als ich
durch das Tor fuhr und ausstieg, befiel mich ein sonderbares Gefühl. Dieser Ort
strahlte eine Ruhe aus, die im starken Kontrast zu dem Lärm und der Dynamik des
indischen Verkehrs, der unmittelbar außerhalb der Mauern herrschte, stand. Ich
ging, wie ich es vorher mit der Ashram-Leitung per Email vereinbart hatte, zur Administration.
Als ich anklopfte und niemand öffnete, wartete ich vor der Tür und überlegte
weitere Schritte.
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Ablaufplan |
Ein Mann, der offensichtlich aus Europa kam und in das
orangene Gewand eines Sannyasins[8] gekleidet war, ging an mir
vorüber. Als er mich sah, kam er auf mich zu und informierte mich höflich und
in einem sehr klaren Englisch mit britischem Akzent darüber, dass das Personal
der Administration sich gerade beim Abendessen befände und bald zurückkommen
würde. Ich bedankte mich und der Mann setzte seinen Weg fort. Ich sollte ihm
während meiner Zeit dort des Öfteren begegnen, doch ergab sich keine
Möglichkeit, ihn zu interviewen. Mein Gastbruder erzählte mir später von einem
jungen Briten, der von seinem Vater nach Indien geschickt worden war, um seinem
lasterhaften Lebensstil entgegen zu wirken. Dieser junge Mann sei von der
spirituellen Umgebung des Arunachala derart überwältigt gewesen, dass er alles
zurück ließ und zu einem Mönch wurde, welcher nun unterhalb des Berges lebe.
Ich vermutete, dass es sich um diesen Sannyasin handelte, doch konnte ich dies
nicht überprüfen. Kurz nach diesem Gespräch kam jemand von der Administration,
öffnete die Tür und bat mich herein. Er war ebenfalls überaus höflich und
machte auf mich den Eindruck, ein echter Gentleman zu sein. Dieser Eindruck
sollte sich über die fünf Wochen, welche ich mich in Tiruvannamalai aufhielt,
erhärten. Er füllte schnell die notwendigen Unterlagen aus und übergab mir den
Schlüssel einer Unterkunft für eine Woche. Später lernte ich eine spanische
Mystikerin kennen, die mir erzählte, dass es üblich sei, dass neue Besucher
eine Ashram-Unterkunft lediglich für drei Tage bekämen. Des Weiteren
informierte sie mich darüber, dass das Wohnen in den Ashram-Unterkünften
kostenlos sei und sich der Ashram durch Spenden finanziere. Die Angehörigen der
Administration hatten mir folglich eine ganze Woche kostenloses Wohnen in
unmittelbarer Nähe des Ashrams spendiert, was ich höchst anständig finde. Als
ich in die Wohnung kam, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Ashrams
lag, konnte ich meinen Augen kaum trauen. Die kleine Einzimmer-Wohnung sah
besser aus, als alle Hotels, die ich davor in Tamil Nadu gesehen hatte und auch
danach noch sehen sollte. Selbst während meines Studiums in Tübingen hatte ich
kaum so komfortabel gelebt, wie in dieser einen Woche. Die Möbel, ein Schrank,
Tisch, Stuhl und das Bett waren schlicht gehalten, sahen aber neu und gut
gepflegt aus. Auch in dem Bad mangelte es an nichts. Vom Balkon aus hatte man
eine gute Sicht auf den dazugehörigen Garten. Nachdem ich meine Sachen in den
Schrank eingeräumt hatte, lies ich mich auf das Bett fallen, machte mit meinem
Handy eine Aufnahme für meinen Bericht und schlief.
Der Ashram
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Armenspeisung in Ashram
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Am nächsten Tag arbeitete ich mich schrittweise in den Ashram
vor und versuchte alles, was mir in ihm relevant erschien, fotografisch
festzuhalten. In den drei Monaten, die ich in Indien verbrachte, kam ich auf
etwa 2000 Bilder. Als ich nun gegen 10:00 Uhr morgens durch das Tor ging,
empfahl mir jemand, meine Schuhe, welche jeder Besucher beim Betreten des
Ashrams abzulegen hatte, in dem kleinen Häuschen, dass zur Rechten des Eingangs
stand, zu hinterlegen. Dort saßen manchmal zwei, manchmal drei ältere Herren,
die offensichtlich die Schuhe der Besucher bewachten, welche ihnen wiederum
gelegentlich dafür ein wenig Geld zusteckten. Immer wenn ich in den Ashram ging
und bei ihnen vorbei kam, begrüßte und verabschiedete ich mich auf Tamilisch,
was generell bei allen Tamilen einen sehr guten Eindruck machte. Als ich jedoch
einmal mit dem Dhoti[9], dem traditionellen
Kleidungsstück des tamilischen Mannes, bekleidet in den Ashram kam, schienen
sie schier außer sich zu sein und einer schlug mir aus Freude gegen die
Schulter. Generell war die natürliche Neugier und die Aufgeschlossenheit der
Menschen für alles Fremde eine sehr positive Erfahrung. Manchmal winkten mir
die Menschen aus den vorbeifahrenden Bussen zu, Kinder kamen zu mir gelaufen
und versuchten mit mir ein paar Worte auf Englisch zu sprechen. Es kam des
Öfteren vor, dass mich Leute baten, mit ihnen ein Foto zu machen. Ich sah
während meiner Zeit in Indien viel Armut und dennoch oder gerade deshalb
verfügten diese Menschen über eine natürliche Neugier und Anschlussfreudigkeit
gegenüber Fremden, die mich tief beeindruckte.
Unmittelbar hinter dem Eingangstor und neben dem „Schuhhaus“
lag ein Vorplatz, an dem jeden Morgen pünktlich 10:30 die Armenspeisung begann.
Mit einem Mal liefen eine große Menge von orange gekleideten Männern und Frauen
auf den Vorplatz und stellte sich in einer langen Schlange an, während Anhänger
des Ashrams an sie das Essen verteilten. Allgemein wurden, solange ich in
Tiruvannamalai war, alle täglichen Rituale und Termine pünktlich eingehalten.
Jeden Tag.
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Das Shuhhaus im Ashram |
Wenn man nun weiter in Richtung des zentralen Schreines ging,
kam man, an einem großen alten Baum vorbei, zu ein paar Treppen, die auf einen
erhöhten Platz führen und vor denen die Besucher ebenfalls ihre Schuhe
ablegten. Auf dem Platz schliefen gelegentlich Hunde, während ab und zu die
Affen den Besuchern die Wasserflaschen stahlen. Allein die Affen im Ashram zu
beobachten, machte ungeheuren Spaß. Einmal sah ich, wie ein Affe zu der
zentralen Waschstelle im Ashram hüpfte, den Wasserhahn aufdrehte und daraus
trank. Zu meinem größeren Erstaunen kam eine Frau dazu, stellte sich an den
Wasserhahn neben dem Affen und wusch sich ihre Hände, als wenn es das normalste
der Welt wäre, dass ein Affe neben ihr den Wasserhahn benutzt.
Rechts von diesem Platz lagen die Buchhandlung und die
Administration. In der Buchhandlung befanden sich Bücher in diversen Sprachen,
unter anderem in Polnisch, Ungarisch und auch auf Deutsch. Ich hatte mich zwar
über Ramana Maharshis Biografie erkundigt, doch ich entschied mich, mir, um
meiner Aufgabe gerecht zu werden und mich auf den Ashram einzulassen, einen
Comic von der bekannten „Amar-Chitra-Katha“-Reihe, das von seinem sein Leben
handelt[10], zu
kaufen. Ich finde den Comic nicht schlecht und würde genau diesen jemandem
empfehlen, der sich über Ramana Maharshi informieren möchte. Des Weiteren
kaufte ich mir zwei Texte auf Deutsch, die vom Verlag des Ashrams als
diejenigen angepriesen werden, welche die Lehre des Ramana Maharshi
zusammenfassen würden: „Alles ist Eins“
und „Wer bin ich?“. Letzterer Text ist auch auf der offiziellen Seite
des Ashrams abrufbar.[11] Wenn man geradewegs, an der
Buchhandlung und der Administration vorbei ging, kam man zu dem Eingang des
zentralen Schreingebäudes. Dieses Gebäude bestand wiederum aus drei Räumen. In
dem ersten Raum, der dunkel gehalten war und von massiven Steinsäulen getragen
wurde, befand sich eine lebensgroße Statue des Ramana Maharshi in Sitzposition.
Dahinter stand eine „Sofa“ aus schwarzem Stein, in das mit Gold das
„Om“-Zeichen eingelassen war. An einer Wand hing eine kurze Beschreibung von
Ramana Maharshis Erleuchtungserfahrung auf Englisch. Durch die Decke fiel ein
wenig Licht in den dunklen Raum. Allein der Aufbau dieses Raumes verfehlte
nicht seinen Eindruck. Als ich das erste Mal durch den Raum ging, sah ich einen
Sannyasin in Meditationshaltung. Er hatte sein rötlich-orangenes Gewand so um
den Körper geworfen, dass nur sein Gesicht daraus hervorlugte. Er wirkte in
dieser Haltung derart stabil und strahlte eine solche „Versunkenheit“ aus, dass
er man ihn für eine Statue hätte halten können. Dieses Bild ließ mich eine
lange Zeit nicht los und gegen Ende meines Aufenthalts sollte ich auch in jenem
Raum meditieren, doch dazu komme ich später. Ging man nun durch diesen Raum,
befand sich an seinem Ende der Zugang zum Schrein der Mutter Ramana Maharshis.
Dieser Raum war wie das Allerheiligste aufgebaut, so wie ich es schon zuvor in
anderen Tempeln gesehen hatte. Das Allerheiligste wurde von einer kleinen
Kuh-Statue bewacht und von Ganesha und anderen Götterstatuen gesäumt. Wenn man
den Raum im Uhrzeigersinn um das Allerheiligste herum durchschritt, gelangte
man in den großen zentralen Schrein für Ramana Maharshi, mit seinem weißen
Steinfußboden und der goldgeschmückten Altar-Plattform, auf der sich ebenfalls
eine lebensgroße Statue von Ramana Maharshi in Meditationshaltung befand. An
den Wänden hingen eingerahmte Fotografien von Ramana Maharshi, die ihn in
verschiedenen Situationen und während verschiedener Altersabschnitte zeigten.
Sowohl vormittags, als auch nachmittags fanden hier die Pujas[12] statt,
während derer die Veden von den Brahmanen rezitiert wurden. Diese Rezitationen
klangen für mich, als ich sie zum ersten Mal hörte, ungewohnt, seltsam und doch
sehr kraftvoll, fast hypnotisch. Später wich ich diesem Ritual aus, da die
Rezitation einen so intensiven Klang hatte, dass mir das Zuhören zunehmend
unerträglich wurde. Die Wahrnehmung kann jedoch bei jeder Person
unterschiedlich sein. Bei anderen Besuchern, die ich kennen lernte, wie zum
Beispiel einer Psychologin aus Chile, welche ich für meine Datenerhebung
interviewt habe und die bereits seit einem Jahr in Tiruvannamalai lebte, war es
genau umgekehrt. Sie war davon fasziniert und meinte, dass ihr das Zuhören bei
der Rezitationen dabei helfen würde, sich auf sich selbst zu konzentrieren.
An das Schreingebäude schloss sich der Mediationsraum an. In
ihm befand sich ein Bett, auf dem ein Bild Ramana Maharshis stand. Bevor ich
nach Tiruvannamalai kam, hatte ich keine nennenswerten Erfahrungen mit
Meditation gemacht. Ich hielt sie, um ehrlich zu sein, für Blödsinn. In dem
Ashram versuchte ich mich zum ersten Mal darauf einzulassen und wurde positiv
überrascht. Ich konnte durch das Meditieren tatsächlich, zumindest für einige
Minuten in einen Zustand tiefer innerer Ruhe gelangen, wonach meine Wahrnehmung
mir als sehr klar und geschärft vorkam. Des Weiteren half mir das Meditieren
dabei, mich zu beruhigen und die vielen intensiven Eindrücke zu verarbeiten,
wenn ich merkte, dass sich eine Überlastung abzeichnete. Selbstverständlich
gelang es mir nicht sofort und auch nicht immer, diesen Zustand zu erreichen.
Dennoch macht ich die Erfahrung, dass ich die Fähigkeit, diese tiefe innere
Ruhe zu erreichen, steigern konnte, umso mehr ich es versuchte. Ich bevorzugte,
wenn ich meditieren wollte, zu Beginn den Meditationsraum. Später ging ich auch
in den dunklen Raum mit der Statue, den ich bereits beschrieben habe. Ging man
nun aus dem zentralen Schrein-Gebäude heraus und an dem Meditationsraum vorbei,
gelangte man zu dem Saal für die Mahlzeiten und das gemeinsame Teetrinken am
Nachmittag.
Bewohner der Unterkünfte und Arbeiter des Ashrams konnten
kostenlos an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten, zu denen ich zu Beginn meines
Aufenthalts ebenfalls ging, teilnehmen. Die Menschen saßen dabei in dem großen
Saal, auf dem mit Steinplatten ausgelegt Boden und aßen Seite an Seite mit der
Hand von den Palmenblättern. Das gemeinsame Essen stellte sich, trotz des
Schweigegebots, als eine ideale Möglichkeit heraus, um Kontakt zu den Besuchern
zu knüpfen. Allerdings vertrug ich das Essen, und das war das erste Mal in
Indien seit meiner Ankunft sieben Wochen zuvor, nicht besonders gut, sodass ich
mich entschied, nicht mehr zu den gemeinsamen Mahlzeiten zu gehen. Dies war
bedauerlich, denn zum Einen schmeckte mir das Essen sehr gut, zum Anderen
verlor ich somit eine gute Möglichkeit, um Interview-Partner für meine
Feldforschung zu finden. Mein Gesundheitszustand ließ allerdings nichts anders
zu. Es ging mir über einige Tage derart schlecht, dass ich mich kaum bewegen
konnte und überlegte, ob ich meinen Aufenthalt in Tiruvannamalai nach der Woche
abbrechen und nach Pondicherry zurückkehren sollte. Um meinem Körper wenigstens
ein wenig Energie zuführen zu können, löste ich Zucker in Wasser auf, das ich
trank. Ein Freund, der schon einmal in Indien gewesen war, empfahl mir, statt
der traditionellen indischen Gerichte Sandwiches zu essen. Ich begab mich also
auf die Suche und fand in unmittelbarer Nähe zum Ashram das „Chay's“, einen
Laden, der vor allem für grünen Tee warb, den er die meiste Zeit, die ich dort
war, jedoch nicht vorrätig hatte. Die anderen Tee-Angebote waren allerdings
sehr gut, und die Bedienung gab sich Mühe, einen guten Service zu leisten. Die
Gerichte waren, wie in den meisten Geschäften vegetarisch. Darunter gab es auch
Burger und Sandwiches, von denen ich mich die meiste Zeit ernährte, bis ich
wieder fit war. Bevor ich krank geworden war, hatte ich während des Essens
einen Geschäftsmann aus Chennai kennen gelernt, der schon des Öfteren in
Deutschland gewesen war. Er erzählte mir unter anderem davon, und dies meinte
er vollkommen ernst, dass es Menschen gäbe, die durch Mediation die Fähigkeit
erlangt hätten, Steine mit ihrer bloßen Gedankenkraft zu zerstören. Ich sollte
in Indien des Öfteren Leuten begegnen, welche hochgebildet waren und trotzdem
ein Konzept dieser Welt vertraten, dass für einen Menschen, der in einer
westlichen Industrienation aufgewachsen ist, befremdlich sein kann. Des
Weiteren traf ich dort auch einen Angehörigen eines Orchesters der Wiener
Hochschule, der bereits eine Woche in Chennai verbracht hatte und sich darüber
beklagte, dass es so schwer sei, in Indien ein gutes Bier zu bekommen. Das
Orchester sollte am kommenden Tag in der Bibliothek, gemeinsam mit einer
indischen Band, ein ausgezeichnetes Konzert geben. In die Bibliothek, die
hinter dem Gebäude mit dem Saal für die Mahlzeiten lag, war ein kreisrunder
Festsaal integriert, dessen technische Ausstattung deutlich machte, dass der
Ashram über nicht unerhebliche Spendensummen verfügen muss. In der darüber
liegenden Bibliothek befanden sich vor allem Werke zu den verschiedenen
Weltreligionen, wie auch bekannte Science Fiction- und Fantasy-Romane, sowie
diverse Werke der Weltliteratur. Als ich das erste Mal in die Bibliothek kam,
war die Aufsicht, ein älterer Herr, etwas unwirsch. Als ich ihn ein anderes Mal
fragte, ob ich ein Foto von ihm und der Bibliothek machen könne, willigte er
ein und seine Laune und Haltung schienen sich deutlich zu bessern. Am Ende war
er doch sehr freundlich und schenkte mir zum Abschied ein Bild von Ramana
Maharshi. Die Bibliothek war das letzte Gebäude des Ashram-Komplexes vor dem
Zugang zum Arunachala, der sich am hinteren Ende befand. Als ich das erste Mal
den Arunachala besteigen wollte, waren die „Guides“, welche als vermeintliche
Ortskundige Führungen über den Berg anboten, derart aufdringlich, dass ich mich
entschied, den Aufstieg abzubrechen. Ich wollte überprüfen, weshalb dieser Berg
eine solche Bedeutung für die Menschen hat und warum er eine solche Wirkung auf
diese ausübt. Dazu musste ich den Arunachala allein und in Ruhe besteigen, ohne
alle paar Meter jemanden loswerden zu müssen. Ich sollte die Besteigung später
nachholen.
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Die Ashramunterkünfte |
Die Gastfamilie
Am Ende der Woche fragte ich den Gentleman von der
Administration, ob er einen Makler kennen würde, der mir ein paar Wohnungen in
Tiruvannamalai zeigen könne und er gab mir eine Nummer. Über den Makler fand
ich glücklicherweise eine sehr schöne Wohnung und noch dazu eine freundliche
Gastfamilie, zu der ich ein derart gutes Verhältnis aufbauen konnte, dass sie
am Ende meinten, sie hätten einen weiteren Sohn. Meine Gastmutter hatte drei
erwachsene Söhne und zwei Töchter. Alle hatten studiert, lediglich der jüngste
Sohn befand sich noch im Studium. Durch die Familie konnte ich einen Einblick
in eine gläubige Hindu-Familie aus der oberen Mittelschicht erhalten. Sollte
jemand vorhaben, nach Tiruvannamalai zu reisen und eine gute Wohnung suchen,
kann er mich gerne kontaktieren und mich nach den Kontaktdaten der Familie
fragen.[13]
In den kommenden Wochen nahm ich, um die Besucher des Ashrams
und die Anhänger Ramana Maharshis verstehen zu können, an den täglichen
Ritualen, wie der Milch-Darbietung[14] am
Morgen oder den abschließenden Gesänge am Nachmittag teil und meditierte. Des
Weiteren versuchte ich so viele Interviews wie möglich durchzuführen, um die
Motivation der Menschen nachvollziehen zu können, diese lange Reise durch und
nach Indien zu jenem Ashram zu unternehmen. Die Menschen waren, wie sich
herausstellte, sehr unterschiedlich. Darunter war z.B. eine schweizerische
Reisekauffrau, die viele Jahre Yoga praktiziert hatte und gerade auf der
Durchreise war. Oder eine italienische Hebamme, die bereits fünf Jahre in
Tiruvannamalai gelebt hatte. Ein amerikanischer Benediktiner-Mönch, der in
Südamerika eine Wahrnehmungsveränderung erlebt und sich dann auf eine
spirituelle Suche nach Indien begeben hatte. Er war ein Redakteur der
Ashram-Zeitung. Oder ein Sannyasin, der vorher Soldat der indischen Luftwaffe
gewesen war. Ein Brahmane, der aus der Heimat von Ramana Maharshi im Süden
Tamil Nadus kommend, sich entschlossen hatte, nie zu heiraten und in der
Verwaltung des Ashrams mitzuwirken. Und ich interviewte auch David Godman, den
Herausgeber das Buch, das ich zu Beginn genannt habe. Er hatte während seines
Studiums in Oxford ein Buch über Ramana Maharshi gefunden und war von dessen
Lehre so fasziniert, dass er sich entschloss, nach Indien zu gehen und sich auf
Spurensuche zu begeben. Er lebt seit dem in Tiruvannamalai, hat bereits mehrere
Bücher zu Ramana Maharshi veröffentlicht und trifft sich mit Besuchern, um
Fragen zu Ramana Maharshi zu beantworten.
Der Besuch
Zwischendurch kam mich Nici besuchen. Nici, ebenfalls
Studentin der Abteilung Ethnologie aus Tübingen, flog nach Indien, um ein Praktikum
in einem Yoga-Krankenhaus in Pondicherry zu absolvieren, als der Sprachkurs
bereits vorbei war und alle Mitglieder zu ihren Standorten gereist waren. Sie
war, da fast alle Pondicherry verlassen hatten, auf sich allein gestellt,
weshalb wir Kontakt hielten und ich sie in Pondicherry besuchte. Damals
unternahmen wir zusammen mit Ramani ein paar Ausflüge nach Auroville, um das
Matrimandir zu besichtigen. Ramani hatte ich wiederum durch einen der
Kommilitonen aus Heidelberg kennen gelernt, der schon mehrfach in Tamil Nadu
gelebt hatte. Einen weiseren Menschen als Ramani hatte ich bis dahin noch nicht
getroffen. Er war als junger Mann nach Deutschland gekommen, hatte dort viele
Jahre als Ingenieur für ein großes deutsches Unternehmen gearbeitet und
geheiratet. Einer seiner Söhne ist jetzt Professor an einer renommierten
deutschen Universität. Als er in Rente ging, kam er nach Indien zurück und lebt
nun in einer sehr schlichten Einzimmerwohnung in Chennai. Ich vermute, dass er
diese „Zelle“ selbst gewählt hatte, da es ihm nicht an Geld zu mangeln schien.
Er war ein freigiebiger Mensch, der uns
Studenten des Öfteren einlud, wenn wir in die Stadt essen gingen. Und er
sprach ein derart schönes Deutsch, dass ich mir, wenn ich mit ihm unterwegs
war, so vorkam, als würde ich mit einem Deutschen sprechen oder in Deutschland
sein und nicht mit einem Inder in Indien. Er selbst sagte, dass er selbst nicht
so richtig wisse, ob er jetzt Inder oder Deutscher sei. Er hatte also beide
Seiten kennen gelernt: Deutschland und Indien. Diese Erfahrung hatte ihn
offensichtlich stark geprägt, sodass er in der Lage war, Probleme wie auch
Vorteile von Indien und Deutschland zu definieren und einander gegenüber zu
stellen.
Nici wohnte während der Zeit, in der sie sich in
Tiruvannamali aufhielt, in der mir gegenüber liegenden Wohnung. Als Frau hatte
sie einen viel besseren Zugang zu meiner Gastmutter und ihren Töchtern als ich.
Sie wuschen zusammen die Wäsche und meine Gastmutter zeigte ihr, wie man einige
indische Gerichte zubereitet. Über Nici erfuhr ich mehr über meine Gastfamilie,
als wenn ich dort allein gewesen wäre. Es gefiel ihr in Tiruvannamali
offensichtlich so gut, dass sie länger als das geplante Wochenende blieb. Über
ihre Erfahrungen in Indien hat sie einen ausführlichen und unterhaltsamen Blog
verfasst, den ich sehr weiter empfehlen kann.
Die Gang
Später, als ich eines Abends vom Ashram nach Hause ging, lernte
ich „Josef“ kennen. Josef war ein tamilischer Christ und nach eigenen Angaben
Medizin-Student. Ich begleitete ihn einmal während eines Hausbesuches,
währenddessen er eine alte Frau, die an Diabetes erkrankt war, versorgte. Des
Weiteren lud er mich einmal zu sich nach Hause ein, wo er mir und einem
koreanischen Gast ein ausgezeichnetes Essen servierte, da seine Frau gerade
nicht da war. Die Koreanerin, die gerade eine Weltreise machte, hieß „Lindsay“
und war über ein Couchsurfing-Programm auf Josef gestoßen. Dieser hatte ihr
angeboten, dass sie für die Woche, die sie sich in Indien aufhalten würde,
kostenlos bei ihm und seiner Familie wohnen könne, wenn sie die Kinder der
Nachbarschaft in Englisch unterrichten würde. Sonst unterrichtete Josef die
Kinder, damit sie wenigstens ein wenig Bildung erhielten und sich jemand um sie
kümmerte, während ihre Eltern arbeiteten. Wie er dies neben der Arbeit, dem
Studium und seiner Familie schaffte, war mir ein Rätsel. Ich kam auch einmal
während des Unterrichts mit Nici zu Besuch
vorbei, woraufhin die Kinder vor Freude schier außer sich gerieten. Alle
wollten wie verrückt „Selfies“ mit meinem Handy machen oder einmal meinen Hut
aufsetzen. Die Freude der Kinder über meinen Besuch ist eine der schönsten
Erfahrungen während meines Aufenthalts in Tamil Nadu.
Josef machte mich ebenfalls mit „Harish“ bekannt, von dem er
mir erzählte, dass er ihn immer rufen könne, wenn er von extremistischen Hindus
attackiert werde, was in letzter Zeit des Öfteren geschehen sei und dass dieser
ihn beschützen würde. Harish selbst war offensichtlich auch Hindu, schien aber
mit „Josef“ sehr gut befreundet zu sein. Er zeigte mir ein Fitnessstudio, wo
ich dann in den letzten Wochen trainierte und über das ich meine „Gang“ finden
sollte. Ich hatte während meines Aufenthalts in Kyrgyztan 2012 festgestellt,
dass Sport eine sehr positive Wirkung auf meinen mentalen Zustand hat, wenn ich
mich in einer fremden Umgebung befinde und sich durch die intensiven Eindrücke
eine Überbelastung abzeichnet. Daher trainierte ich zu Beginn auf dem Dach des
Hauses meiner Gastfamilie und joggte, wenn ich es einrichten konnte, auf der Pilgerstraße,
die um den Arunachala herumführte. Durch das Fitnessstudio lernte ich eine
Gruppe von Jungen kennen, die alle Freunde von Harish waren und mit denen ich
in den letzten Wochen viel unternahm. Sie zeigten mir den großen Tempel des
Arunachala und erklärten mir die Rituale. Oder wir machten einen Ausflug zu der
Höhle auf dem Berg, wo Ramana Maharshi mehrere Jahre gelebt haben soll. Wir
fuhren mit den Motorrädern auch zu einem lokalen Staudamm, wo einige Szenen für
den Film „Baahubali“ gedreht worden waren (Wer im Übrigen die Möglichkeit hat,
in Tamil Nadu ins Kino zu gehen, sollte dies unbedingt tun. Es ist ein
Erlebnis.). Die Landschaft war
tatsächlich so schön, dass sie aus einem Film hätte stammen können. Ich merkte,
dass es für die Jungen das absolut Größte war, etwas mit einem Ausländer zu
unternehmen und das sie gerne etwas von ihrer Stadt und ihrer Kultur zeigen
wollten. Dennoch musste ich meine Aktivitäten einschränken, da ich die
Erfüllung meiner Aufgabe, den Ashram zu untersuchen, gefährdet sah. Auch die
Unternehmungen mit der tamilischen Gang habe ich als sehr positiv in Erinnerung
behalten.
Der Abschied
In den letzten Tagen überlegte ich, was ich meiner
Gastfamilie zum Abschied schenken könnte. Ich fand zu meiner Überraschung in
dem Supermarkt, der dem Ashram gegenüber lag, einen alkoholfreien Sekt aus
Deutschland. Als ich ihn meiner Gastfamilie überreichte, waren sie sehr
erfreut, doch sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten, da sie
offensichtlich nie alkoholische Getränke wie einen Sekt konsumiert hatten. Sie
schenkten mir zum Abschied wiederum einen orangefarbenen Dhoti, der
üblicherweise von Sannyasins getragen wird. Auch Ramani war in der letzten
Woche nach Tiruvannamalai zu Besuch gekommen und schien sich ausgezeichnet mit
meiner Gastfamilie zu verstehen. Am letzten Abend saßen wir alle zusammen, aßen
und unterhielten uns über die Unterschiede zwischen Indien und Deutschland,
während Ramani Anekdoten aus seinem Leben zum Besten gab und wir viel lachten.
Am nächsten Tag brachen Ramani und ich nach Chennai auf. Er besorgte mir ein
Hotelzimmer und half mir am Morgen zum Flughafen zu kommen, während uns die
aufgehende Sonne begleitete. Ich stieg in das Flugzeug und verließ dieses
wunderbare, schreckliche, dynamische und gelassene Land. Ein Architekt aus
Pondicherry meinte einmal zu mir, dass alle Kulturen und Religionen den Umgang
mit anderen Menschen lehren würden. Indien hingegen würde Dich über Dich selbst
lehren.