Donnerstag, 28. Januar 2016

Brigitta Reiner - Adana, Türkei



2. November 2015, Halbzeit des Mobilitätssemesters: das sind für mich 9 Wochen, die ich in der Türkei, genauer: in Adana, verbracht habe. Als ich gestern ins International Office kam, um meine resident permission abzuholen und nach dem Verbleib meines learning agreements zu fragen, sprach ich die Erasmus-Verantwortliche auf türkisch an. Ich war verblüfft...was war geschehen? Kurze Zeit vorher hatte ich im Krankenhaus mein erstes Interview mit einer Assistenzärztin auf türkisch gehabt und war, einfach so, in der fremden Sprache geblieben....
Ist das ein deutliches Zeichen, dass die Talsohle des „Kulturschocks“ überwunden ist und ich anfange, mich „zu Hause“ zu fühlen?
Die Sprache spielt bei dem Prozess der Anpassung an eine neue, wie auch immer beschaffene Kultur, eine äusserst wichtige Rolle. Sie bestimmt in einer modernen Gesellschaft den Grad von Teilhabe am
Leben, von Kontaktmöglichkeiten mit Menschen.


Stadtrundfahrt der Erasmusstudenten mit türkischen peer-
Studenten. Hier: vor dem "Conan Dede Türbeis",
einem islamischen Volksheiligtum.
Meine Erasmus Komiltonen kommen zum größten Teil  ohne Türkischkenntnisse zurecht: sie haben sich und ein paar englischsprechende türkische Studenten. Damit lässt sich ein abwechslungsreiches Semester im Ausland verbringen.
Ich lebe nicht auf dem Kampüs, sondern bei einer Gastfamilie. Die Eltern sprechen nur türkisch. Die  Kinder sind aus dem Haus: sie studieren, bzw. arbeiten in Istanbul, 1,5 Flugstunden entfernt.

Vor der "Sabancı Merkezi Camıı", der
größten Moschee der Türkei





Nach zwei intensiven Semestern Türkischunterricht an der Uni möchte ich jetzt diese Sprache sprechen lernen. Damit ich Interviews zum Thema Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett führen kann. Im Krankenhaus, aber auch überall dort, wo ich Frauen begegnen kann. Nach neun Wochen geht das(s.o.) also schon. Fernsehen -der Apparat läuft den ganzen

Tag- ist noch schwierig. Schade, denn neben vielen emotionsgeladenen Serien, die auch nonverbal zu verstehen sind, interessiert sich mein Gastgeber für viele Nachrichtensendungen und politische Geprächsrunden. Auch dem Tratsch der Frauen beim Kaffee kann ich bisher nur einzelne Brocken entnehmen. Neben einem großen Maß an Geduld und Gleichmut aber auch mit Humor und Geistesgegenwart kann ich solche Situationen nicht nur aushalten, sondern ihnen immer wieder kleine Sprech-und Verständniserfolge abgewinnen. Und wenn mich meine Gastgeberin mit dem Kosenamen balım (mein Honig) bedenkt, spüre ich deutlich, dass ich trotz –oder wegen?- meiner eingeschränkten sprachlichen Kommunikationsfähigkeit,
zu ihnen gehöre.


Als Erasmusstudentin studiere ich natürlich auch: an der theologischen Fakultät genieße ich Privatsitzungen mit den Professoren der Philosphie (Ethik), auf deutsch, der vergleichenden Religionswissenschaften und der Geschichte des Islam (englisch). Leider habe ich auf diese Weise nur sehr wenig Kontakt zu den Student_innen der Fakultät; dafür sind die Sitzungen sehr intensiv, was mir persönlich gefällt. Das respektvolle hocam (mein Lehrer) in der Anrede entfällt dabei auch....

"Stillende" im Freiluftmuseum von Karatepe/Osmaniye,
Ausgrabungsstätte eines hethitischen Burgbergs (7. Jh. v. Ch.)
Mein Studienprojekt plagt mich dagegen sehr: als ich im Frühjahr mit meiner Supervisorin (einer Professorin der Fachhochschule für Krankenpflege und Geburtshilfe) über meinen Wunsch, in der Klinik sowohl auf der Entbindungs- als auch Wochenbettstation zu hospitieren (Teilnehmende Beobachtung) und Interviews zum Thema der Begleitung von Frauen in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu führen, meinte sie, dass das alles kein Problem sei. Meine Befürchtungen, dass es dann im Herbst, wenn es ernst wird, doch nicht so einfach sein würde, bestätigten sich leider. Jetzt kämpfe ich mit einem auf türkisch zu schreibenden Forschungsantrag. Die nur sehr wenig englisch sprechende Professorin und ihre Assistentin kennen keine qualitative, rekursive Forschung und weisen mich immer auf die Vorlage anderer quantitativer Forschungen hin. Meine Dolmetscherin ist mal mehr, mal weniger zuverlässig. Alle sind dabei sehr bemüht....was mich aber eher verzweifeln lässt, denn es scheint mehr Probleme als Fortschritte zu geben. Es sind die Erinnerungen an die Sitzungen zum Thema „Erschließen des Feldes“, die mir in dieser Situation wirklich helfen: ich erlebe jetzt vieles „live“! Nun, ich hoffe, dass die anderen Phasen auch noch an die Reihe kommen- und denke dabei aber gleichzeitig auch schon an einen Plan „B“. Ich fühle mich auf der Schwelle stehend...

Es gab zwei Erlebnisse, die mich aus der kleinen Welt einer Erasmusstudentin herausrissen und, so erlebte ich es, mit der gesamtgesellschaftlichen Situation in der Türkei konfrontierten: ihre Spaltung in ein konservativ-autokratisches und ein modern-demokratisch (und zivilgesellschaftliches) „Lager“. 

Kreuzung Baraj Yolu-Turgut Oval Bulvarısı:
Die Symbole der Türkischen Republik - die Nationalflagge
und Atatürk. Seit der Gewalteskalation prägen sie als Zeichen
der Trauer und nationalen Verbundenheit vielerorts das
Straßenbild.
Seit meiner Ankunft Anfang September waren die Gewalttaten im Südosten des Landes zwischen PKK und der türkischen Armee eskaliert. Über die täglichen z. T. hochemotionalen Fernsehberichte erlebte ich auch bei meinen Gastgebern eine steigende Anspannung und Angst um die Zukunft ihres

Landes. Am 1. November sollten Wahlen stattfinden. Bei dem Bombenanschlag auf die große Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober war unter den über 100 Toten auch eine Studentin der Çukurova Üniversitesi. Drei Tage später fand auf dem Campus eine Gedenk- und Protest- /Friedensdemonstration statt. Mir erschien es wie eine Erlösung, endlich eine andere Form der politischen Auseinandersetzung als Gewalt zu erleben. Gespräche mit Studenten und Beschäftigten der Universität schlossen sich an.

Am nächsten Tag fand das offizielle Erasmus-Dinner mit dem Rektor und etwa 30 Verwaltungsangestellten der Universität statt. Es wurde ein köstliches Essen serviert. Darüber hinaus schien man jedoch kein besonderes Interessse daran zu haben, dass wir Studierenden aus dem Ausland uns willkommen fühlen könnten: irgendjemand spulte ein paar Begrüßungsfloskeln in schlechtem Englisch herunter. Niemand wurde vorgestellt. Wir saßen zwar an einer Tafel, blieben uns aber völlig fremd. Mit den spontanen Freundschaftsbekundungen und Einladungen, die ich bereits vielfach erlebt hatte, hatte dies nichts zu tun.


19. November 2015. Inzwischen ist die Talsohle tatsächlich überwunden: die Vielfalt meines Alltags sowie das beständige Beschreiben und Reflektieren desselben haben mich schließlich so stark mit dem Leben in dieser neuen Kultur verbunden, dass ich schon anfange zu überlegen, was ich wohl in Deutschland vermissen werde...doch bis dahin ist noch etwas Zeit. 

Michael Paul Adamczyk - Nowosibirsk, Russland

Frohes. Neues. Jahr. Nicht.

Ich spaziere bei -30°C durch die Nacht der Großstadt und überlege mir: Was ist hier nur schief
gelaufen? An welchem Punkt hätte ich merken können, dass was faul ist? Gastfamilie verlassen,
mit jeder Fragestellung an die Wand gefahren, nicht mal richtig Russisch gelernt. Doch alles von
Anfang an…




Auf sich allein gestellt

Mein Masterplan für die ersten Tage sah so aus: Ich suche mir eine schlechte Unterkunft in
Nowosibirsk um erstmal zu sehen, wie mies es sein kann. Alles was danach kommt kann nur
besser werden. So war es auch! Am vierten Tag wurde ich von meinen Gastgebern abgeholt und
wir sind in einen richtig schönen Stadtteil (Akademgorodok) gefahren. Die Wohnung meiner
Gastgeber ist die einer gehobenen Mittelklasse. Schnelles Internet, hübsch eingerichtet, alles
wichtige in der Nähe, fast im Wald gelegen.
So verbrachte ich die ersten Tage damit die Gegend zu erkunden, Bekanntschaften zu knüpfen
und viel zu filmen. Leider haben meine Gastgeber so gut wie keine Freunde, weshalb ich durch sie
keine weiteren Leute kennengelernt habe. Das Goethe-Institut und deren Mitarbeiter waren die
ersten Ansprechpartner.



















Projektthemen... ach, diese Projektthemen

Die meisten Kontakte hatte ich zur sehr überschaubaren deutschen Community in Nowosibirsk. Jeden Monat gibt es den deutschen Stammtisch, an dem ich auch immer teilnahm. Gleich nach dem ersten Stammtisch (etwa 12 Teilnehmer) habe ich mich als Helfer für den deutschen Weihnachtsmarkt gemeldet. Erst drei Wochen im Land und schon beteiligt an Aufbau, Ausschank und auch noch Fotos gemacht. Mein Plan dort an Kontakte zu kommen, die mir mehr über ein deutsches Weihnachten in Russland erzählen, ging irgendwie nicht auf. Entweder die Person hat keine Zeit, ist nicht in der Stadt oder nichtmal im Land zu der Zeit. 




Erstes Projekt „Deutsche Weihnachtstraditionen in Russland gelebt“ war somit beendet. Jetzt musste etwas Neues her. Also gut, warum dann nicht einfach russisches Neujahr bei Russen zu Hause? Ich habe also angefangen mich mit dem russischen Fest zu beschäftigen und die Traditionen dazu. Bei dieser Frage waren meine Gastgeber auch nicht sehr hilfreich. Außer „es wird gegessen und getrunken“ wollte man mir nicht mehr sagen. Ich sollte verstehen warum es bei ihnen nicht so einen hohen Wert hat... 


Energie, ja! Nein, doch nicht

Die Zwischenzeit verbrachte ich mit Filmen und Fotografieren und dem wiederholenden Versuch mit den Bewohnern von Nowosibirsk in Kontakt zu kommen. So habe ich zum Beispiel einige Stunden bei eisigen Temperaturen auf einem gefrorenen See zugebracht und mit Eisfischern gesprochen. So gut es geht zumindest. Weitere Versuche mit interessanten Menschen in Kontakt zu kommen scheiterten an deren Unzuverlässigkeit. So wurde ich mal knallhart per Whatsapp versetzt, als ich schon 30 Minuten wartete. Den Burger hab ich dann allein gegessen. 




Ein Highlight war sicherlich der Besuch der größten Oper Russlands, am 24.12. zu dem Ballett „Der Nussknacker“. Bärenfleisch im Restaurant gegessen zu haben, sicherlich auch. Aber auch die Eisfischer, ein ganz besonderer Schlag Menschen. Ich war zudem für 4 Tage in Tomsk, der ältestes Universitätsstadt Sibiriens und werde auch noch ins Altai-Gebirge fahren. Es gab schon sehr viele schöne Momente, aber die meisten davon erlebte ich alleine.
So nahm meine Motivation leider immer weiter ab und daheim bemerkte ich einen Stimmungswechsel, den ich nicht nähern beschreiben konnte. Meine Energie nahm ab, meine Gastgeber wurden stiller, es entstanden mitunter seltsame Momente. Es spitzte sich zu bis zum Neujahrsfest. 



Russisches Neujahr/Weihnachten/Mischmasch

Einen Tag vorher haben wir schon drei verschiedene, sehr mayonaiselastige, Salate hergestellt für das Fest. Am 31.12. selbst sind wir früh aufgebrochen zur Großmutter meiner Gastgeberin. Es sollte ein Fest in kleinem Kreis sein, gerade einmal sieben Leute. Wir kamen an, schauten Fernsehen (das gehört dazu), aßen die Salate und Hühnchen. Eine kleine Flasche Wodka durfte nicht fehlen, die aber schnell leer war.






Mitternacht kam näher, aber festlicher wurde es nicht. Der Countdown hat kaum interessiert, es wurde sich nicht beglückwünscht, mir war seltsam zu Mute. Geschenke! Dann hab ich mal als erstes meine Geschenke verteilt und bekam da auch kaum freundliche Worte zurück, die Mutter meiner Gastgeberin schenkte mir ein Fotobuch (wie durchdacht) und es gab noch kleinere Geschenke.
Dann verschwanden fast alle in die Küche, ich schaute währenddessen weiter TV, ich wollte mir die Stimmung nicht mies machen lassen. Nach und nach kamen alle zurück, der Großvater mitsamt Samowar. Das ist ein traditionelles russisches Gefäß für Tee, den man auf den Tisch stellen kann. Ich fand das toll! Aber seine Tochter nicht so, sie machte ihm Vorwürfe, wieso er denn das Ding jetzt hinstellen muss. Es war 0:30 Uhr und wir machten uns auf den Heimweg. Sowas hab ich auch noch nicht erlebt. 



Irgendwas lief hier grundlegend schief

Meine Begründung dafür lag wohl im nicht gerade optimalen Familienverhältnis. Ich wusste schon länger zwischen Problemen meiner Gastgeberin und deren Mutter. Bei einem vorherigen Besuch war es schon sehr gezwungen. Deshalb dann auch keine große Wertschätzung eines Familienfeiertages.
Während der Autofahrt platzte jedoch die Bombe. Die Freundin meiner Gastgeberin und sie zofften sich und es ging dabei auch mich. Es waren Gefühle im Spiel, die so nicht angebracht waren, mehr möchte ich nicht dazu schreiben. Ich hab mich extrem unwohl gefühlt, habe ich doch nie unzweifelhaft gehandelt in meinen Augen.
Von da an war es in der Wohnung nur noch unangenehm. Ein Abend hatte alles geändert. Ich musste dort raus, das war mein Gefühl. Meine Gastgeberin sagte mir ins Gesicht, dass es ihr auch sehr unangenehm ist und ich nur noch da wohne, weil mein Gastgeber (ihr Mann) zu mir hält. 

Samstag, 2. Januar 2016

Titus Novotny - Pondicherry, Indien


„Mit WLAN-Netz Shiva verbunden“.[1]
Eine Reise zum Herzen der Welt.

Heute hatte ich mich spontan entschlossen, in die Bibliothek zu gehen und nach einem Buch zu suchen, auf das ich dort vor etwa zwei Jahren gestoßen bin und dessen Titel „Ramana Maharshi. Sei was Du bist!“ lautet. Als ich begann, das Buch an der Stelle weiter zu lesen, an der ich damals aufgehört hatte, gingen mir viele Erinnerungen an eine lange Reise durch den Kopf, die mich zu einem heiligen Berg auf dem indischen Subkontinent geführt hatte. Ich erinnerte mich ebenfalls, dass ich, als ich das Buch zum letzten Mal las, dachte, wie gerne ich nach Indien reisen und dieses fremde Land mit meinen eigenen Augen sehen wollen würde. Diesen Gedanken hatte ich jedoch sogleich verworfen. Ich war in Deutschland. Wie sollte ich jemals das Geld und die Zeit haben, um nach Indien zu reisen? Ich gab das Buch zurück und vergaß es. Hätte mir jemand vor zwei Jahren gesagt, dass ich nach Tiruvannamalai[2] in Südindien reisen, und David Godman, den Herausgeber des Buches persönlich interviewen würde, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Und als ich durch das Tor des „Sri Ramanashramam“[3]  ging, konnte ich es immer noch nicht fassen.
Der heilige Berg
Die Vorgeschichte

Zuvor hatte ich seit Ende Juli in der ehemaligen französischen Kolonie Pondicherry zusammen mit fünf weiteren Kommilitonen der Abteilung Ethnologie der Eberhard Karls Universität Tübingen einen Sprachkurs in Tamil[4] absolviert. Wir waren nicht die einzigen Studenten aus Deutschland. Auch drei Kommilitonen aus Heidelberg hatten sich für den Kurs angemeldet, an dessen Ende wir eine gute Beziehung zu einander aufgebaut hatten. Unter den Teilnehmern waren des Weiteren eine japanische Tamilexpertin, ein Chinesischlehrer aus Lissabon, ein polnischer Sanskritspezialist, ein österreichischer Altorientalist und ein französischer Abenteurer, welcher sich nach vielen Reisen in Südamerika und Asien, in seinen Sechzigern nochmal dazu entschlossen hatte, neu anzufangen und zu studieren. Ebenso wie die Kursteilnehmer hätten auch die Lehrer, ein Katholik, ein Hindu, ein Atheist und ein Freidenker aus Auroville[5], unterschiedlicher nicht sein können und dennoch ergänzten sie sich gegenseitig auf eine ausgezeichnete Weise. Sie spiegelten meiner Meinung nach das multireligiöse Zusammenleben der Stadt wieder und ich meine, dass ich von Ihnen vielleicht noch mehr über das Leben in Tamil Nadu[6] als über die Sprache an sich gelernt habe. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sie wirklich beeindruckende Persönlichkeiten waren, die meinen Horizont erweitert haben. Der Sprachkurs selbst war durch den ständigen Wechsel von Unterrichtseinheit und Lehrpersonal, sowie genügend Pausen sehr effektiv konzipiert und das gemeinsame Teetrinken nach dem Unterricht, wie auch die verschiedenen Unternehmungen hatten einen sehr positiven Einfluss auf das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb des Kurses. Ich kann daher jedem, der an der tamilischen Sprache und Kultur interessiert ist, den Kurs sehr empfehlen.
Ich will jedoch hier nicht weiter auf die Zeit in Pondicherry, noch über meine Reisen zu den anderen Städten Tamil Nadus eingehen, denn die Erlebnisse, die ich dort machen durfte, würden selbst ein ganzes Buch füllen. Auch über meinen fünfwöchigen Aufenthalt am Arunachala kann ich in diesem Blog nur zusammenfassend eingehen, da die Eindrücke für die kurze Zeit derart intensiv waren, dass ich sie nicht alle wiedergeben kann. Ich bitte den Leser daher, dies zu entschuldigen.

Die Reise

Nach Beendigung des Kurses reisten also zwei Kommilitoninnen aus Heidelberg, ein Kommilitone aus Tübingen und ich nach Madurai und zuletzt nach Chennai, das ehemalige Madras, bevor jeder seinen eigenen Weg ging. Am 13.09.2015 brach ich von dort planmäßig nach Tiruvannamalai auf. Der Bus schaukelte durch die Schlaglöcher wie ein Schiff auf hoher See hin und her (Wer nach actiongeladenen Reisemöglichkeiten mit musikalischer Untermalung sucht, wird das Busfahren in Indien lieben.). Ich war vom Reisen erschöpft und fiel zwischendurch in einen Halbschlaf, während Menschen und Städte an mir vorüber zogen. Als ich wieder munter wurde, begann es zu dämmern. Gegen den roten Horizont ragte aus der Ebene eine einzige gewaltige schwarze Spitze empor, auf die der Bus geradewegs zusteuerte. In dem Moment kamen in mir Assoziationen an eine Reise zu einem mythischen Ort am Ende der Welt auf. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass es der Arunachala[7] war, der sich gegen die untergehende Sonne erhob und dass dieser Berg für einige Menschen, die ich in den nächsten Wochen kennen lernen sollte, tatsächlich ein solch mythischer Ort ist.
Der erste Schrein
Die Ankunft

Als der Bus im Busbahnhof in Tiruvannamali anlegte, war es bereits dunkel. Ich nahm eine Rikscha und fuhr zum „Sri Ramanashramam“. Als ich durch das Tor fuhr und ausstieg, befiel mich ein sonderbares Gefühl. Dieser Ort strahlte eine Ruhe aus, die im starken Kontrast zu dem Lärm und der Dynamik des indischen Verkehrs, der unmittelbar außerhalb der Mauern herrschte, stand. Ich ging, wie ich es vorher mit der Ashram-Leitung per Email vereinbart hatte, zur Administration. Als ich anklopfte und niemand öffnete, wartete ich vor der Tür und überlegte weitere Schritte.
Ablaufplan
Ein Mann, der offensichtlich aus Europa kam und in das orangene Gewand eines Sannyasins[8] gekleidet war, ging an mir vorüber. Als er mich sah, kam er auf mich zu und informierte mich höflich und in einem sehr klaren Englisch mit britischem Akzent darüber, dass das Personal der Administration sich gerade beim Abendessen befände und bald zurückkommen würde. Ich bedankte mich und der Mann setzte seinen Weg fort. Ich sollte ihm während meiner Zeit dort des Öfteren begegnen, doch ergab sich keine Möglichkeit, ihn zu interviewen. Mein Gastbruder erzählte mir später von einem jungen Briten, der von seinem Vater nach Indien geschickt worden war, um seinem lasterhaften Lebensstil entgegen zu wirken. Dieser junge Mann sei von der spirituellen Umgebung des Arunachala derart überwältigt gewesen, dass er alles zurück ließ und zu einem Mönch wurde, welcher nun unterhalb des Berges lebe. Ich vermutete, dass es sich um diesen Sannyasin handelte, doch konnte ich dies nicht überprüfen. Kurz nach diesem Gespräch kam jemand von der Administration, öffnete die Tür und bat mich herein. Er war ebenfalls überaus höflich und machte auf mich den Eindruck, ein echter Gentleman zu sein. Dieser Eindruck sollte sich über die fünf Wochen, welche ich mich in Tiruvannamalai aufhielt, erhärten. Er füllte schnell die notwendigen Unterlagen aus und übergab mir den Schlüssel einer Unterkunft für eine Woche. Später lernte ich eine spanische Mystikerin kennen, die mir erzählte, dass es üblich sei, dass neue Besucher eine Ashram-Unterkunft lediglich für drei Tage bekämen. Des Weiteren informierte sie mich darüber, dass das Wohnen in den Ashram-Unterkünften kostenlos sei und sich der Ashram durch Spenden finanziere. Die Angehörigen der Administration hatten mir folglich eine ganze Woche kostenloses Wohnen in unmittelbarer Nähe des Ashrams spendiert, was ich höchst anständig finde. Als ich in die Wohnung kam, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Ashrams lag, konnte ich meinen Augen kaum trauen. Die kleine Einzimmer-Wohnung sah besser aus, als alle Hotels, die ich davor in Tamil Nadu gesehen hatte und auch danach noch sehen sollte. Selbst während meines Studiums in Tübingen hatte ich kaum so komfortabel gelebt, wie in dieser einen Woche. Die Möbel, ein Schrank, Tisch, Stuhl und das Bett waren schlicht gehalten, sahen aber neu und gut gepflegt aus. Auch in dem Bad mangelte es an nichts. Vom Balkon aus hatte man eine gute Sicht auf den dazugehörigen Garten. Nachdem ich meine Sachen in den Schrank eingeräumt hatte, lies ich mich auf das Bett fallen, machte mit meinem Handy eine Aufnahme für meinen Bericht und schlief.

Der Ashram

Armenspeisung in Ashram
Am nächsten Tag arbeitete ich mich schrittweise in den Ashram vor und versuchte alles, was mir in ihm relevant erschien, fotografisch festzuhalten. In den drei Monaten, die ich in Indien verbrachte, kam ich auf etwa 2000 Bilder. Als ich nun gegen 10:00 Uhr morgens durch das Tor ging, empfahl mir jemand, meine Schuhe, welche jeder Besucher beim Betreten des Ashrams abzulegen hatte, in dem kleinen Häuschen, dass zur Rechten des Eingangs stand, zu hinterlegen. Dort saßen manchmal zwei, manchmal drei ältere Herren, die offensichtlich die Schuhe der Besucher bewachten, welche ihnen wiederum gelegentlich dafür ein wenig Geld zusteckten. Immer wenn ich in den Ashram ging und bei ihnen vorbei kam, begrüßte und verabschiedete ich mich auf Tamilisch, was generell bei allen Tamilen einen sehr guten Eindruck machte. Als ich jedoch einmal mit dem Dhoti[9], dem traditionellen Kleidungsstück des tamilischen Mannes, bekleidet in den Ashram kam, schienen sie schier außer sich zu sein und einer schlug mir aus Freude gegen die Schulter. Generell war die natürliche Neugier und die Aufgeschlossenheit der Menschen für alles Fremde eine sehr positive Erfahrung. Manchmal winkten mir die Menschen aus den vorbeifahrenden Bussen zu, Kinder kamen zu mir gelaufen und versuchten mit mir ein paar Worte auf Englisch zu sprechen. Es kam des Öfteren vor, dass mich Leute baten, mit ihnen ein Foto zu machen. Ich sah während meiner Zeit in Indien viel Armut und dennoch oder gerade deshalb verfügten diese Menschen über eine natürliche Neugier und Anschlussfreudigkeit gegenüber Fremden, die mich tief beeindruckte.
Unmittelbar hinter dem Eingangstor und neben dem „Schuhhaus“ lag ein Vorplatz, an dem jeden Morgen pünktlich 10:30 die Armenspeisung begann. Mit einem Mal liefen eine große Menge von orange gekleideten Männern und Frauen auf den Vorplatz und stellte sich in einer langen Schlange an, während Anhänger des Ashrams an sie das Essen verteilten. Allgemein wurden, solange ich in Tiruvannamalai war, alle täglichen Rituale und Termine pünktlich eingehalten. Jeden Tag.
Das Shuhhaus im Ashram
Wenn man nun weiter in Richtung des zentralen Schreines ging, kam man, an einem großen alten Baum vorbei, zu ein paar Treppen, die auf einen erhöhten Platz führen und vor denen die Besucher ebenfalls ihre Schuhe ablegten. Auf dem Platz schliefen gelegentlich Hunde, während ab und zu die Affen den Besuchern die Wasserflaschen stahlen. Allein die Affen im Ashram zu beobachten, machte ungeheuren Spaß. Einmal sah ich, wie ein Affe zu der zentralen Waschstelle im Ashram hüpfte, den Wasserhahn aufdrehte und daraus trank. Zu meinem größeren Erstaunen kam eine Frau dazu, stellte sich an den Wasserhahn neben dem Affen und wusch sich ihre Hände, als wenn es das normalste der Welt wäre, dass ein Affe neben ihr den Wasserhahn benutzt.
Rechts von diesem Platz lagen die Buchhandlung und die Administration. In der Buchhandlung befanden sich Bücher in diversen Sprachen, unter anderem in Polnisch, Ungarisch und auch auf Deutsch. Ich hatte mich zwar über Ramana Maharshis Biografie erkundigt, doch ich entschied mich, mir, um meiner Aufgabe gerecht zu werden und mich auf den Ashram einzulassen, einen Comic von der bekannten „Amar-Chitra-Katha“-Reihe, das von seinem sein Leben handelt[10], zu kaufen. Ich finde den Comic nicht schlecht und würde genau diesen jemandem empfehlen, der sich über Ramana Maharshi informieren möchte. Des Weiteren kaufte ich mir zwei Texte auf Deutsch, die vom Verlag des Ashrams als diejenigen angepriesen werden, welche die Lehre des Ramana Maharshi zusammenfassen würden: „Alles ist Eins“  und „Wer bin ich?“. Letzterer Text ist auch auf der offiziellen Seite des Ashrams abrufbar.[11] Wenn man geradewegs, an der Buchhandlung und der Administration vorbei ging, kam man zu dem Eingang des zentralen Schreingebäudes. Dieses Gebäude bestand wiederum aus drei Räumen. In dem ersten Raum, der dunkel gehalten war und von massiven Steinsäulen getragen wurde, befand sich eine lebensgroße Statue des Ramana Maharshi in Sitzposition. Dahinter stand eine „Sofa“ aus schwarzem Stein, in das mit Gold das „Om“-Zeichen eingelassen war. An einer Wand hing eine kurze Beschreibung von Ramana Maharshis Erleuchtungserfahrung auf Englisch. Durch die Decke fiel ein wenig Licht in den dunklen Raum. Allein der Aufbau dieses Raumes verfehlte nicht seinen Eindruck. Als ich das erste Mal durch den Raum ging, sah ich einen Sannyasin in Meditationshaltung. Er hatte sein rötlich-orangenes Gewand so um den Körper geworfen, dass nur sein Gesicht daraus hervorlugte. Er wirkte in dieser Haltung derart stabil und strahlte eine solche „Versunkenheit“ aus, dass er man ihn für eine Statue hätte halten können. Dieses Bild ließ mich eine lange Zeit nicht los und gegen Ende meines Aufenthalts sollte ich auch in jenem Raum meditieren, doch dazu komme ich später. Ging man nun durch diesen Raum, befand sich an seinem Ende der Zugang zum Schrein der Mutter Ramana Maharshis. Dieser Raum war wie das Allerheiligste aufgebaut, so wie ich es schon zuvor in anderen Tempeln gesehen hatte. Das Allerheiligste wurde von einer kleinen Kuh-Statue bewacht und von Ganesha und anderen Götterstatuen gesäumt. Wenn man den Raum im Uhrzeigersinn um das Allerheiligste herum durchschritt, gelangte man in den großen zentralen Schrein für Ramana Maharshi, mit seinem weißen Steinfußboden und der goldgeschmückten Altar-Plattform, auf der sich ebenfalls eine lebensgroße Statue von Ramana Maharshi in Meditationshaltung befand. An den Wänden hingen eingerahmte Fotografien von Ramana Maharshi, die ihn in verschiedenen Situationen und während verschiedener Altersabschnitte zeigten. Sowohl vormittags, als auch nachmittags fanden hier die Pujas[12] statt, während derer die Veden von den Brahmanen rezitiert wurden. Diese Rezitationen klangen für mich, als ich sie zum ersten Mal hörte, ungewohnt, seltsam und doch sehr kraftvoll, fast hypnotisch. Später wich ich diesem Ritual aus, da die Rezitation einen so intensiven Klang hatte, dass mir das Zuhören zunehmend unerträglich wurde. Die Wahrnehmung kann jedoch bei jeder Person unterschiedlich sein. Bei anderen Besuchern, die ich kennen lernte, wie zum Beispiel einer Psychologin aus Chile, welche ich für meine Datenerhebung interviewt habe und die bereits seit einem Jahr in Tiruvannamalai lebte, war es genau umgekehrt. Sie war davon fasziniert und meinte, dass ihr das Zuhören bei der Rezitationen dabei helfen würde, sich auf sich selbst zu konzentrieren.
An das Schreingebäude schloss sich der Mediationsraum an. In ihm befand sich ein Bett, auf dem ein Bild Ramana Maharshis stand. Bevor ich nach Tiruvannamalai kam, hatte ich keine nennenswerten Erfahrungen mit Meditation gemacht. Ich hielt sie, um ehrlich zu sein, für Blödsinn. In dem Ashram versuchte ich mich zum ersten Mal darauf einzulassen und wurde positiv überrascht. Ich konnte durch das Meditieren tatsächlich, zumindest für einige Minuten in einen Zustand tiefer innerer Ruhe gelangen, wonach meine Wahrnehmung mir als sehr klar und geschärft vorkam. Des Weiteren half mir das Meditieren dabei, mich zu beruhigen und die vielen intensiven Eindrücke zu verarbeiten, wenn ich merkte, dass sich eine Überlastung abzeichnete. Selbstverständlich gelang es mir nicht sofort und auch nicht immer, diesen Zustand zu erreichen. Dennoch macht ich die Erfahrung, dass ich die Fähigkeit, diese tiefe innere Ruhe zu erreichen, steigern konnte, umso mehr ich es versuchte. Ich bevorzugte, wenn ich meditieren wollte, zu Beginn den Meditationsraum. Später ging ich auch in den dunklen Raum mit der Statue, den ich bereits beschrieben habe. Ging man nun aus dem zentralen Schrein-Gebäude heraus und an dem Meditationsraum vorbei, gelangte man zu dem Saal für die Mahlzeiten und das gemeinsame Teetrinken am Nachmittag.
Bewohner der Unterkünfte und Arbeiter des Ashrams konnten kostenlos an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten, zu denen ich zu Beginn meines Aufenthalts ebenfalls ging, teilnehmen. Die Menschen saßen dabei in dem großen Saal, auf dem mit Steinplatten ausgelegt Boden und aßen Seite an Seite mit der Hand von den Palmenblättern. Das gemeinsame Essen stellte sich, trotz des Schweigegebots, als eine ideale Möglichkeit heraus, um Kontakt zu den Besuchern zu knüpfen. Allerdings vertrug ich das Essen, und das war das erste Mal in Indien seit meiner Ankunft sieben Wochen zuvor, nicht besonders gut, sodass ich mich entschied, nicht mehr zu den gemeinsamen Mahlzeiten zu gehen. Dies war bedauerlich, denn zum Einen schmeckte mir das Essen sehr gut, zum Anderen verlor ich somit eine gute Möglichkeit, um Interview-Partner für meine Feldforschung zu finden. Mein Gesundheitszustand ließ allerdings nichts anders zu. Es ging mir über einige Tage derart schlecht, dass ich mich kaum bewegen konnte und überlegte, ob ich meinen Aufenthalt in Tiruvannamalai nach der Woche abbrechen und nach Pondicherry zurückkehren sollte. Um meinem Körper wenigstens ein wenig Energie zuführen zu können, löste ich Zucker in Wasser auf, das ich trank. Ein Freund, der schon einmal in Indien gewesen war, empfahl mir, statt der traditionellen indischen Gerichte Sandwiches zu essen. Ich begab mich also auf die Suche und fand in unmittelbarer Nähe zum Ashram das „Chay's“, einen Laden, der vor allem für grünen Tee warb, den er die meiste Zeit, die ich dort war, jedoch nicht vorrätig hatte. Die anderen Tee-Angebote waren allerdings sehr gut, und die Bedienung gab sich Mühe, einen guten Service zu leisten. Die Gerichte waren, wie in den meisten Geschäften vegetarisch. Darunter gab es auch Burger und Sandwiches, von denen ich mich die meiste Zeit ernährte, bis ich wieder fit war. Bevor ich krank geworden war, hatte ich während des Essens einen Geschäftsmann aus Chennai kennen gelernt, der schon des Öfteren in Deutschland gewesen war. Er erzählte mir unter anderem davon, und dies meinte er vollkommen ernst, dass es Menschen gäbe, die durch Mediation die Fähigkeit erlangt hätten, Steine mit ihrer bloßen Gedankenkraft zu zerstören. Ich sollte in Indien des Öfteren Leuten begegnen, welche hochgebildet waren und trotzdem ein Konzept dieser Welt vertraten, dass für einen Menschen, der in einer westlichen Industrienation aufgewachsen ist, befremdlich sein kann. Des Weiteren traf ich dort auch einen Angehörigen eines Orchesters der Wiener Hochschule, der bereits eine Woche in Chennai verbracht hatte und sich darüber beklagte, dass es so schwer sei, in Indien ein gutes Bier zu bekommen. Das Orchester sollte am kommenden Tag in der Bibliothek, gemeinsam mit einer indischen Band, ein ausgezeichnetes Konzert geben. In die Bibliothek, die hinter dem Gebäude mit dem Saal für die Mahlzeiten lag, war ein kreisrunder Festsaal integriert, dessen technische Ausstattung deutlich machte, dass der Ashram über nicht unerhebliche Spendensummen verfügen muss. In der darüber liegenden Bibliothek befanden sich vor allem Werke zu den verschiedenen Weltreligionen, wie auch bekannte Science Fiction- und Fantasy-Romane, sowie diverse Werke der Weltliteratur. Als ich das erste Mal in die Bibliothek kam, war die Aufsicht, ein älterer Herr, etwas unwirsch. Als ich ihn ein anderes Mal fragte, ob ich ein Foto von ihm und der Bibliothek machen könne, willigte er ein und seine Laune und Haltung schienen sich deutlich zu bessern. Am Ende war er doch sehr freundlich und schenkte mir zum Abschied ein Bild von Ramana Maharshi. Die Bibliothek war das letzte Gebäude des Ashram-Komplexes vor dem Zugang zum Arunachala, der sich am hinteren Ende befand. Als ich das erste Mal den Arunachala besteigen wollte, waren die „Guides“, welche als vermeintliche Ortskundige Führungen über den Berg anboten, derart aufdringlich, dass ich mich entschied, den Aufstieg abzubrechen. Ich wollte überprüfen, weshalb dieser Berg eine solche Bedeutung für die Menschen hat und warum er eine solche Wirkung auf diese ausübt. Dazu musste ich den Arunachala allein und in Ruhe besteigen, ohne alle paar Meter jemanden loswerden zu müssen. Ich sollte die Besteigung später nachholen.
Die Ashramunterkünfte

Die Gastfamilie

Am Ende der Woche fragte ich den Gentleman von der Administration, ob er einen Makler kennen würde, der mir ein paar Wohnungen in Tiruvannamalai zeigen könne und er gab mir eine Nummer. Über den Makler fand ich glücklicherweise eine sehr schöne Wohnung und noch dazu eine freundliche Gastfamilie, zu der ich ein derart gutes Verhältnis aufbauen konnte, dass sie am Ende meinten, sie hätten einen weiteren Sohn. Meine Gastmutter hatte drei erwachsene Söhne und zwei Töchter. Alle hatten studiert, lediglich der jüngste Sohn befand sich noch im Studium. Durch die Familie konnte ich einen Einblick in eine gläubige Hindu-Familie aus der oberen Mittelschicht erhalten. Sollte jemand vorhaben, nach Tiruvannamalai zu reisen und eine gute Wohnung suchen, kann er mich gerne kontaktieren und mich nach den Kontaktdaten der Familie fragen.[13]
In den kommenden Wochen nahm ich, um die Besucher des Ashrams und die Anhänger Ramana Maharshis verstehen zu können, an den täglichen Ritualen, wie der Milch-Darbietung[14] am Morgen oder den abschließenden Gesänge am Nachmittag teil und meditierte. Des Weiteren versuchte ich so viele Interviews wie möglich durchzuführen, um die Motivation der Menschen nachvollziehen zu können, diese lange Reise durch und nach Indien zu jenem Ashram zu unternehmen. Die Menschen waren, wie sich herausstellte, sehr unterschiedlich. Darunter war z.B. eine schweizerische Reisekauffrau, die viele Jahre Yoga praktiziert hatte und gerade auf der Durchreise war. Oder eine italienische Hebamme, die bereits fünf Jahre in Tiruvannamalai gelebt hatte. Ein amerikanischer Benediktiner-Mönch, der in Südamerika eine Wahrnehmungsveränderung erlebt und sich dann auf eine spirituelle Suche nach Indien begeben hatte. Er war ein Redakteur der Ashram-Zeitung. Oder ein Sannyasin, der vorher Soldat der indischen Luftwaffe gewesen war. Ein Brahmane, der aus der Heimat von Ramana Maharshi im Süden Tamil Nadus kommend, sich entschlossen hatte, nie zu heiraten und in der Verwaltung des Ashrams mitzuwirken. Und ich interviewte auch David Godman, den Herausgeber das Buch, das ich zu Beginn genannt habe. Er hatte während seines Studiums in Oxford ein Buch über Ramana Maharshi gefunden und war von dessen Lehre so fasziniert, dass er sich entschloss, nach Indien zu gehen und sich auf Spurensuche zu begeben. Er lebt seit dem in Tiruvannamalai, hat bereits mehrere Bücher zu Ramana Maharshi veröffentlicht und trifft sich mit Besuchern, um Fragen zu Ramana Maharshi zu beantworten.


Der Besuch

Zwischendurch kam mich Nici besuchen. Nici, ebenfalls Studentin der Abteilung Ethnologie aus Tübingen, flog nach Indien, um ein Praktikum in einem Yoga-Krankenhaus in Pondicherry zu absolvieren, als der Sprachkurs bereits vorbei war und alle Mitglieder zu ihren Standorten gereist waren. Sie war, da fast alle Pondicherry verlassen hatten, auf sich allein gestellt, weshalb wir Kontakt hielten und ich sie in Pondicherry besuchte. Damals unternahmen wir zusammen mit Ramani ein paar Ausflüge nach Auroville, um das Matrimandir zu besichtigen. Ramani hatte ich wiederum durch einen der Kommilitonen aus Heidelberg kennen gelernt, der schon mehrfach in Tamil Nadu gelebt hatte. Einen weiseren Menschen als Ramani hatte ich bis dahin noch nicht getroffen. Er war als junger Mann nach Deutschland gekommen, hatte dort viele Jahre als Ingenieur für ein großes deutsches Unternehmen gearbeitet und geheiratet. Einer seiner Söhne ist jetzt Professor an einer renommierten deutschen Universität. Als er in Rente ging, kam er nach Indien zurück und lebt nun in einer sehr schlichten Einzimmerwohnung in Chennai. Ich vermute, dass er diese „Zelle“ selbst gewählt hatte, da es ihm nicht an Geld zu mangeln schien. Er war ein freigiebiger Mensch, der uns  Studenten des Öfteren einlud, wenn wir in die Stadt essen gingen. Und er sprach ein derart schönes Deutsch, dass ich mir, wenn ich mit ihm unterwegs war, so vorkam, als würde ich mit einem Deutschen sprechen oder in Deutschland sein und nicht mit einem Inder in Indien. Er selbst sagte, dass er selbst nicht so richtig wisse, ob er jetzt Inder oder Deutscher sei. Er hatte also beide Seiten kennen gelernt: Deutschland und Indien. Diese Erfahrung hatte ihn offensichtlich stark geprägt, sodass er in der Lage war, Probleme wie auch Vorteile von Indien und Deutschland zu definieren und einander gegenüber zu stellen.
Nici wohnte während der Zeit, in der sie sich in Tiruvannamali aufhielt, in der mir gegenüber liegenden Wohnung. Als Frau hatte sie einen viel besseren Zugang zu meiner Gastmutter und ihren Töchtern als ich. Sie wuschen zusammen die Wäsche und meine Gastmutter zeigte ihr, wie man einige indische Gerichte zubereitet. Über Nici erfuhr ich mehr über meine Gastfamilie, als wenn ich dort allein gewesen wäre. Es gefiel ihr in Tiruvannamali offensichtlich so gut, dass sie länger als das geplante Wochenende blieb. Über ihre Erfahrungen in Indien hat sie einen ausführlichen und unterhaltsamen Blog verfasst, den ich sehr weiter empfehlen kann.[15]

Die Gang

Später, als ich eines Abends vom Ashram nach Hause ging, lernte ich „Josef“ kennen. Josef war ein tamilischer Christ und nach eigenen Angaben Medizin-Student. Ich begleitete ihn einmal während eines Hausbesuches, währenddessen er eine alte Frau, die an Diabetes erkrankt war, versorgte. Des Weiteren lud er mich einmal zu sich nach Hause ein, wo er mir und einem koreanischen Gast ein ausgezeichnetes Essen servierte, da seine Frau gerade nicht da war. Die Koreanerin, die gerade eine Weltreise machte, hieß „Lindsay“ und war über ein Couchsurfing-Programm auf Josef gestoßen. Dieser hatte ihr angeboten, dass sie für die Woche, die sie sich in Indien aufhalten würde, kostenlos bei ihm und seiner Familie wohnen könne, wenn sie die Kinder der Nachbarschaft in Englisch unterrichten würde. Sonst unterrichtete Josef die Kinder, damit sie wenigstens ein wenig Bildung erhielten und sich jemand um sie kümmerte, während ihre Eltern arbeiteten. Wie er dies neben der Arbeit, dem Studium und seiner Familie schaffte, war mir ein Rätsel. Ich kam auch einmal während des Unterrichts mit Nici zu Besuch  vorbei, woraufhin die Kinder vor Freude schier außer sich gerieten. Alle wollten wie verrückt „Selfies“ mit meinem Handy machen oder einmal meinen Hut aufsetzen. Die Freude der Kinder über meinen Besuch ist eine der schönsten Erfahrungen während meines Aufenthalts in Tamil Nadu.
Josef machte mich ebenfalls mit „Harish“ bekannt, von dem er mir erzählte, dass er ihn immer rufen könne, wenn er von extremistischen Hindus attackiert werde, was in letzter Zeit des Öfteren geschehen sei und dass dieser ihn beschützen würde. Harish selbst war offensichtlich auch Hindu, schien aber mit „Josef“ sehr gut befreundet zu sein. Er zeigte mir ein Fitnessstudio, wo ich dann in den letzten Wochen trainierte und über das ich meine „Gang“ finden sollte. Ich hatte während meines Aufenthalts in Kyrgyztan 2012 festgestellt, dass Sport eine sehr positive Wirkung auf meinen mentalen Zustand hat, wenn ich mich in einer fremden Umgebung befinde und sich durch die intensiven Eindrücke eine Überbelastung abzeichnet. Daher trainierte ich zu Beginn auf dem Dach des Hauses meiner Gastfamilie und joggte, wenn ich es einrichten konnte, auf der Pilgerstraße, die um den Arunachala herumführte. Durch das Fitnessstudio lernte ich eine Gruppe von Jungen kennen, die alle Freunde von Harish waren und mit denen ich in den letzten Wochen viel unternahm. Sie zeigten mir den großen Tempel des Arunachala und erklärten mir die Rituale. Oder wir machten einen Ausflug zu der Höhle auf dem Berg, wo Ramana Maharshi mehrere Jahre gelebt haben soll. Wir fuhren mit den Motorrädern auch zu einem lokalen Staudamm, wo einige Szenen für den Film „Baahubali“ gedreht worden waren (Wer im Übrigen die Möglichkeit hat, in Tamil Nadu ins Kino zu gehen, sollte dies unbedingt tun. Es ist ein Erlebnis.).[16] Die Landschaft war tatsächlich so schön, dass sie aus einem Film hätte stammen können. Ich merkte, dass es für die Jungen das absolut Größte war, etwas mit einem Ausländer zu unternehmen und das sie gerne etwas von ihrer Stadt und ihrer Kultur zeigen wollten. Dennoch musste ich meine Aktivitäten einschränken, da ich die Erfüllung meiner Aufgabe, den Ashram zu untersuchen, gefährdet sah. Auch die Unternehmungen mit der tamilischen Gang habe ich als sehr positiv in Erinnerung behalten.




Der Abschied

In den letzten Tagen überlegte ich, was ich meiner Gastfamilie zum Abschied schenken könnte. Ich fand zu meiner Überraschung in dem Supermarkt, der dem Ashram gegenüber lag, einen alkoholfreien Sekt aus Deutschland. Als ich ihn meiner Gastfamilie überreichte, waren sie sehr erfreut, doch sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten, da sie offensichtlich nie alkoholische Getränke wie einen Sekt konsumiert hatten. Sie schenkten mir zum Abschied wiederum einen orangefarbenen Dhoti, der üblicherweise von Sannyasins getragen wird. Auch Ramani war in der letzten Woche nach Tiruvannamalai zu Besuch gekommen und schien sich ausgezeichnet mit meiner Gastfamilie zu verstehen. Am letzten Abend saßen wir alle zusammen, aßen und unterhielten uns über die Unterschiede zwischen Indien und Deutschland, während Ramani Anekdoten aus seinem Leben zum Besten gab und wir viel lachten. Am nächsten Tag brachen Ramani und ich nach Chennai auf. Er besorgte mir ein Hotelzimmer und half mir am Morgen zum Flughafen zu kommen, während uns die aufgehende Sonne begleitete. Ich stieg in das Flugzeug und verließ dieses wunderbare, schreckliche, dynamische und gelassene Land. Ein Architekt aus Pondicherry meinte einmal zu mir, dass alle Kulturen und Religionen den Umgang mit anderen Menschen lehren würden. Indien hingegen würde Dich über Dich selbst lehren.


[1]              Anmerk.: Das WLAN-Netz der Gastfamilie in Tiruvannamalai hieß „Shiva“, sodass das oben genannte Zitat während des Verbindens mit dem Smartphone angezeigt wurde. Es ist ein passendes Beispiel für die Kombination von Tradition und Moderne, welche in Tamil Nadu allgegenwärtig ist.
[2]              Anmerk.: Tiruvannamalai ist eine Stadt im Tamil Nadu, die unterhalb des Berges Arunachala liegt und in der sich mehrere Ashrams von berühmten Gurus und ein wichtiger Tempel befinden.
[3]              Anmerk.: Ein Ashram ist ein klosterähnliches Meditationszentrum, das sich zum Beispiel um einen spirituellen Lehrer gebildet hat und in den sich nicht nur die jeweiligen Anhänger, sondern auch die allgemeine Bevölkerung gerne zurückzieht, um zu meditieren und Ruhe zu finden.
[4]              Tamil ist eine südindische, sog. drawidische Sprache mit einer sehr alten literarischen Tradition
[5]              Anmerk.: Auroville ist eine noch nicht fertiggestellte, künstliche Planstadt in der unmittelbaren Nähe von Pondicherry, deren Bewohner das Ziel verfolgen, einen Ort zu begründen, wo Angehörige aller Nationen und Religionen im Frieden zusammen leben können. Die Idee hierzu stammt von Sri Aurobindo und der sog. „Mutter“. Besonders sehenswert ist das zentrale Gebäude der Stadt, eine goldene, begehbare Kugel: das Matrimandir.
[6]              Anmerk.: Tamil Nadu ist der südlichste Bundesstaat Indiens, welcher auf der Ostseite des Subkontinents gegenüber von Sri Lanka liegt.
[7]              Anmerk.: Einer der heiligsten Berge im Shivaismus.
[8]              Anmerk.: Ein Mönch.
[9]              Anmerk.: Ein weißes Tuch, das um die Hüften gebunden wird und bis zu den Knöcheln reicht.
[12]             Anmerk.: Verehrungsrituale
[14]             Anmerk.: Hierbei wird gesegnete Milch an die Teilnehmer des Rituals verteilt.
[15]             https://nickisjourney.com/
[16]             http://baahubali.com/videos.html

Donnerstag, 19. November 2015

Dominik Uhl und Anna Nolden aus Tamil Nadu, Indien

Am 24. Juli sind wir, sechs Studenten aus Tübingen, nach Chennai geflogen und von dort aus nach Pondicherry gefahren, einer schönen Stadt an der Ostküste Südindiens, in Tamil Nadu. Dort haben wir die folgenden sechs Wochen einen Tamil Sprachkurs besucht. Wir hatten montags bis samstags jeweils sechs Stunden Unterricht, der immer intensiv, aber vor allem abwechslungsreich und lustig war. Wir waren alle sehr überrascht, wie viel wir gelernt haben und niemand von uns hätte erwartet, dass unser Tamil nach sechs Wochen so gut sein könnte! Während des Sprachkurses wurde uns viel über die tamilische Kunst und Kultur vermittelt, zum Beispiel durch verschiedenste Ausflüge oder künstlerische Darbietungen vor Ort. Die Stimmung im Sprachkurs war sehr angenehm, da es Tamil Schüler aus der ganzen Welt gab, mit denen wir auch außerhalb des Unterrichts viel unternommen haben. Der Kurs war gut strukturiert und die Lehrer waren wirklich nett und sehr hilfsbereit, wenn man mal ein Problem hatte oder einen Ansprechpartner brauchte.
Pondicherry war der ideale Ort, um unseren Indien Aufenthalt zu beginnen. Die „White Town“, eines der Viertel, ist sehr französisch angehaucht und wenn man mal genug hat von der indischen Kultur, kann man dort hin fliehen und in eines der Cafés gehen, von denen es dort einige gibt. Auch in der Umgebung finden sich viele Sehenswürdigkeiten, schöne Strände, große Tempel und einen Mangrovenwald, den man mit dem Boot auf engen Wasserstraßen durchfahren kann. Man kann also immer auch außerhalb des Sprachkurses Ausflüge machen.


Danach hatten wir beide drei Wochen Zeit, die wir nach unserem Belieben nutzen konnten, bevor wir zum Praktikum gefahren sind. Dominik war in der freien Zeit in Pondi und Anna war in Sri Lanka.
Anfang Oktober sind wir dann ins Praktikum bei der ITWWS gefahren, der Irula Tribe Women’s Welfare Society, bei der wir sechseinhalb Wochen verbracht haben. Die Hauptziele der ITWWS sind die Bewahrung der der Kultur der Irula, die Herstellung und Anwendung der traditionellen Medizin und das Informieren der Besucher über die Entwicklung des Bewusstseins für die Natur und gesunde Ernährung. Der Campus befindet sich inmitten eines Dschungels und bietet unter anderem das Medical Center, in dem Medizin hergestellt, von speziellen Heilern angewendet und verkauft wird. Des Weiteren gibt es mehrere Gärtnereien, in denen die Heilpflanzen angebaut werden und eine Training Hall, in der Workshops und Vorträge gehalten werden. Da es hier viele giftige und ungiftige Schlangen gibt, ist bei der ITWWS ein professioneller Irula Schlangenfänger angestellt, dessen Fähigkeiten des Öfteren benötigt wurden.


Wir hatten beide verschiedene Forschungsansätze, durch die die Wahl auf dieses Praktikum gefallen ist. Dominiks Interesse lag in der traditionellen Heilkunde der Irula und deren Anwendung. Anna beschäftigte sich mit den Schlangenfängern und deren Arbeit. Das wurde ihr ermöglicht durch den Schlangenfänger in der ITWWS, sowie einer Organisation, die sich mit Schlangen und der Verarbeitung deren Gifts beschäftigt und die sich in der Nähe der ITWWS befindet.


Wir waren beide begeistert von der Natur und der Ruhe, sowie der Nettigkeit der Menschen, die hier arbeiten. Sie sind sehr nett, hilfsbereit und wir haben oft mit ihnen rumgesessen, Tee getrunken und viel Spaß mit ihnen gehabt. Natürlich war es oft schwierig, von ihnen inhaltliche Informationen zu erhalten, sowie mehr als oberflächliche Gespräche zu führen, da wenige von ihnen Englisch sprechen. Es ist also sehr von Vorteil, beim Sprachkurs gut aufzupassen und so viele Tamilkenntnisse wie möglich mitzunehmen. Alles in allem hat es uns in Indien sehr gut gefallen! Wir haben viele wichtige Erfahrungen gemacht und persönliche Veränderungen an uns vorgenommen, die wir in Deutschland fortführen wollen und auch werden. Wir sind beide der Meinung, Indien hat uns sehr gut getan.