Montag, 14. Januar 2013

Cora Gäbel - Varanasi, Indien

Damals in Indien, als ich noch jung war und meine Studienforschung durchführen wollte – das war ein Abenteuer! Die jungen Männer sind mir in Scharen nachgelaufen, haben mir hinterhergepfiffen oder Komplimente gerufen. Ich habe Sonnenaufgänge im Himalaya und am südlichsten Punkt Indiens gesehen. Tagelang bin ich mit Zügen durch das Land gefahren, habe mit Frauen über ihre Kinder gesprochen, ganze Familien bei Pilgerschaften beobachtet, in unzähligen Tempeln den Duft von Kampfer geatmet und mit Rikshafahrern unnachgiebig verhandelt. Ladenbesitzer haben ihren indischen Kunden stolz erzählt, dass die ‚englische Lady‘ Hindi spricht und fremde Frauen halfen mir, dem Schneider das schönste Design für meinen nächsten Salwar Kameez aufzutragen. Während mir eine adipöse Asketin berichtete, dass Fasten nicht wichtig sei, „sprach“ ich mit einem Aghori über seine Entsagung von Essen, Sprechen und Laufen – und beobachtete ihn einige Tage später, wie er zur Ganga lief. Während der Kumbh Mela campte ich sechs Wochen bei niedrigen Temperaturen und zahlte dafür „günstige“ 360€. – So oder ähnlich wird sich mein 78jähriges Ich wahrscheinlich an meine Zeit in Indien erinnern. Aber im Moment nehme ich meinen Aufenthalt natürlich anders wahr. Ein zentrales Thema besonders zu Beginn meines Aufenthaltes waren Männer. Aus meinem ersten Aufenthalt in Indien hatte ich gelernt und reiste nun als verheiratete Frau, nur wenige Menschen hier kennen meinen wahren Status. Trotzdem hatte ich viele Probleme mit Männern, die von Zeit zu Zeit immer noch auftreten – inklusive eines Telefonstalkers. Als mein Berater im Vodafone-Shop hatte ein junger Mann natürlich Zugriff auf meine Mobilfunknummer, die er einen Monat extensiv nutzte (trotz mehrfacher Aufforderungen, mich nicht zu belästigen). Zumindest lernte ich in dieser Zeit, mein Auftreten als Ehefrau zu perfektionieren, so dass die zahllosen „Flirtattacken“ auch einen Nutzen hatten.

Dashahra
Bereits nicht als graziösester Mensch auf die Welt gekommen, scheine ich in Indien mein Talent für das Sammeln kleiner, aber wiederholter Verletzungen weiterentwickelt zu haben: Ein verstauchter Knöchel, Schürfwunden im Fuß- und Beinbereich, eine Schnittwunde an der Hand. Für gewöhnlich handelt es sich dabei um kleine Sachen, die meistens in amüsanten Kontexten passiert sind. Im amüsanten Kontext und in den darauffolgenden Tagen sind diese Verletzungen nur meistens nicht besonders amüsant. Und warum sollte ich nicht auch fleißig Krankheiten sammeln? Mit meiner US-amerikanischen Gastschwester diskutierte ich eines Abends darüber, dass das Erlebnis Indien ohne Krankheit nicht vollständig ist – ein Thema, das unter Ausländern in Varanasi populär und verbindend. Mehr Zeit als
Bhaiya Duj
Chat Puja
erwartet habe ich in Varanasi mit der Suche nach einer Gastfamilie verbracht. Die Vermietung von Zimmern (und allem, was dem ähnlich kommt) ist hier ein großes Geschäft. Für indische Verhältnisse sind die Zimmer teuer, die Konditionen schlecht. So überrascht es wenig, dass ich nach langer Suche eine semioptimale Entscheidung getroffen habe. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, wie teuer doch alles geworden sei, welche Geschenke ich besorgen könnte, dass ich zu Diwali kein Geld (dafür aber andere Dinge, die unerwähnt blieben) geschenkt hatte. Während meiner letzten Zeit löste sich auch das Rätsel um mein andauerndes, wiederholtes Kranksein auf: Wasserfilter müssen ausgetauscht werden, das älteste Essen in der Küche ist nicht für europäische Mägen geeignet. Keinesfalls vermute ich eine böse Absicht dahinter – nur ökonomisches Handeln. Und ich hatte auch schöne Zeiten in meiner Familie, wenn ich indische Gerichte lernte oder wir gemeinsam eine schlecht produzierte, dramatische TV-Serie schauten, die die Wiederheirat thematisiert. Bald ist die Zeit gekommen, nach Allahabad umzuziehen. Bereits in Deutschland musste ich feststellen, dass bezahlbare Unterkünfte während der Purna Kumbh Mela in Allahabad, die nur alle zwölf Jahre stattfindet, unauffindbar sind. Schließlich vereinbarte ich mit Unterstützung meines Hindi-Lehrers ein Zimmer in einem Swiss Cottage auf einem Privatgrundstück. Während meines Besuches bei den Besitzern lernte ich, was ein Swiss Cottage ist: Wenig hat es mit einem Cottage zu tun, es handelt sich lediglich um ein besseres Zelt mit drei Räumen, für die während der Kumbh Mela jeweils 25.000 Rupien (selbstverständlich ohne Mahlzeiten), etwa 360€, verlangt werden können. Nachts liegen die Temperaturen im Februar übrigens bei etwa 10°C.


Chat Puja
Aber ich habe keinesfalls einen furchtbaren Aufenthalt. In Varanasi habe ich mich gut eingelebt und ich bin traurig, dass ich es schon bald verlassen muss. Ich habe Feste mit meiner Gastfamilie gefeiert, fand in einer lokalen Zeitung ein Bild von mir, weil ich die Chat Puja (ein beeindruckendes Fest für Surya, bei dem vor allem Frauen endlos lange in der kalten Ganga stehen) besucht hatte und schloss Freundschaften, wo ich sie nicht erwartet hätte. Und vor allem lernte ich hier viel Hindi. Mein Hindi-Lehrer ist sehr unkonventionell, aber auch sehr streng, was das Sprechen in einer anderen Sprache als Hindi betrifft. Und selbstverständlich habe ich durch die praktische Anwendung sehr viel gelernt – so viel, dass ich meinen Alltag meistens problemlos auf Hindi meistern kann und sogar zwei kürzere Interviews (hauptsächlich) auf Hindi geführt habe.

Nun habe ich schon so viel über meinen Aufenthalt gesagt, ohne viel über meine Studienforschung zu sprechen: Hinduistische Asketinnen. Im Vorfeld hatte ich beschlossen, mit dem Sri Sarada Math in Varanasi zu arbeiten, dessen Headquarter in Kolkata sitzt. Nach einem E-Mail- und Telefonkontakt aus Deutschland fuhr ich also zunächst nach Kolkata, um eine endgültige, offizielle Erlaubnis für meine Forschung zu erhalten. Nach mehrfachen Erklärungen war die Äbtin des Klosters dann auch überraschend hilfsbereit, kündigte mich in Varanasi telefonisch an und gab mir sogar Hinweise für Rikshafahrer. Entsprechend motiviert kehrte ich schließlich nach Varanasi zurück und traf mich schon bald mit den Asketinnen des Klosters. Meine Euphorie wurde jedoch schnell gebremst, als die Asketinnen wie schüchterne Schuljungen begannen, mir widersprüchliche Signale zu geben. Wollten sie mir auf indisch-höfliche Art und Weise sagen, dass sie nicht bereit sind, mit mir zu sprechen? Oder waren sie wirklich so beschäftigt mit all den Festen, dass sie keine Zeit für mich hatten? Auch
Aghori-Asket
Alternativen führten nicht zum Ziel. Schließlich bekam ich drei Interviews mit einer Asketin, die zwar forciert („it’s my duty“) und nur selten ausführlich, trotzdem aber spannend waren. Früh wurde deutlich, dass ich nicht mehr bekommen würde, also dachte ich über Alternativen nach. Da mir noch die Kumbh Mela bevorsteht, wollte ich mein Thema nicht ganz ändern. Ich beschloss, meinen Geschlechtsfokus vorläufig aufzuheben – in Varanasi treffe ich täglich auf unzählige Asketen. Doch auch das war nicht so einfach: Es ist bekannt, dass einige Asketen gerne mir westlichen Frauen sprechen, jedoch nicht ohne Erwartungen. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen zu Beginn in Indien beschloss ich, nichts zu erzwingen und den Kontakt zu Asketen zu suchen, die ich auf den Ghats beobachten konnte, die mir „sympathisch“ erschienen. Doch es stellte sich ein weiteres Problem: Welcher Asket ist „echt“? Varanasi ist eine für Ausländer und Inder interessante und wichtige Stadt. Von den zahllosen sadhus, die sich auf den Ghats tummeln, verdienen die offensichtlichen Asketen (wenn sie überhaupt Asketen sind) ihr Geld durch ihr Auftreten: Sie tragen aufwendige Tilaks, sitzen in yogischen Positionen und fordern besonders Ausländer auf, ihnen Geld zu geben. Die vielleicht „echten“ Asketen sind nicht zwangsläufig als solche erkennbar. Oder laufen seit zwölf Jahren nicht mehr und laufen trotzdem zur Ganga – vielleicht aber auch nur eine Illusion, die sie mir durch ihre durch Askese angesammelten Kräfte vorspielen konnten. ;)

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