Cora Gäbel - Varanasi, Indien
Damals in
Indien, als ich noch jung war und meine Studienforschung durchführen wollte –
das war ein Abenteuer! Die jungen Männer sind mir in Scharen nachgelaufen,
haben mir hinterhergepfiffen oder Komplimente gerufen. Ich habe Sonnenaufgänge
im Himalaya und am südlichsten Punkt Indiens gesehen. Tagelang bin ich mit
Zügen durch das Land gefahren, habe mit Frauen über ihre Kinder gesprochen,
ganze Familien bei Pilgerschaften beobachtet, in unzähligen Tempeln den Duft
von Kampfer geatmet und mit Rikshafahrern unnachgiebig verhandelt.
Ladenbesitzer haben ihren indischen Kunden stolz erzählt, dass die ‚englische
Lady‘ Hindi spricht und fremde Frauen halfen mir, dem Schneider das schönste
Design für meinen nächsten Salwar Kameez aufzutragen. Während mir eine adipöse
Asketin berichtete, dass Fasten nicht wichtig sei, „sprach“ ich mit einem
Aghori über seine Entsagung von Essen, Sprechen und Laufen – und beobachtete
ihn einige Tage später, wie er zur Ganga lief. Während der Kumbh Mela campte ich
sechs Wochen bei niedrigen Temperaturen und zahlte dafür „günstige“ 360€. – So oder ähnlich wird sich mein 78jähriges Ich wahrscheinlich an
meine Zeit in Indien erinnern. Aber im Moment nehme ich meinen Aufenthalt
natürlich anders wahr. Ein zentrales
Thema besonders zu Beginn meines Aufenthaltes waren Männer. Aus meinem ersten
Aufenthalt in Indien hatte ich gelernt und reiste nun als verheiratete Frau,
nur wenige Menschen hier kennen meinen wahren Status. Trotzdem hatte ich viele
Probleme mit Männern, die von Zeit zu Zeit immer noch auftreten – inklusive
eines Telefonstalkers. Als mein Berater im Vodafone-Shop hatte ein junger Mann
natürlich Zugriff auf meine Mobilfunknummer, die er einen Monat extensiv nutzte
(trotz mehrfacher Aufforderungen, mich nicht zu belästigen). Zumindest lernte
ich in dieser Zeit, mein Auftreten als Ehefrau zu perfektionieren, so dass die
zahllosen „Flirtattacken“ auch einen Nutzen hatten.
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Dashahra |
Bereits nicht
als graziösester Mensch auf die Welt gekommen, scheine ich in Indien mein
Talent für das Sammeln kleiner, aber wiederholter Verletzungen weiterentwickelt
zu haben: Ein verstauchter Knöchel, Schürfwunden im Fuß- und Beinbereich, eine
Schnittwunde an der Hand. Für gewöhnlich handelt es sich dabei um kleine
Sachen, die meistens in amüsanten Kontexten passiert sind. Im amüsanten
Kontext und in den darauffolgenden Tagen sind diese Verletzungen nur meistens
nicht besonders amüsant. Und warum sollte ich nicht auch fleißig Krankheiten
sammeln? Mit meiner US-amerikanischen Gastschwester diskutierte ich eines
Abends darüber, dass das Erlebnis Indien ohne Krankheit nicht
vollständig ist – ein Thema, das unter Ausländern in Varanasi populär und
verbindend. Mehr Zeit als
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Bhaiya Duj |
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Chat Puja |
erwartet habe ich in Varanasi mit der Suche nach einer Gastfamilie verbracht.
Die Vermietung von Zimmern (und allem, was dem ähnlich kommt) ist hier ein
großes Geschäft. Für indische Verhältnisse sind die Zimmer teuer, die
Konditionen schlecht. So überrascht es wenig, dass ich nach langer Suche eine semioptimale
Entscheidung getroffen habe. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, wie teuer
doch alles geworden sei, welche Geschenke ich besorgen könnte, dass ich zu
Diwali kein Geld (dafür aber andere Dinge, die unerwähnt blieben) geschenkt
hatte. Während meiner letzten Zeit löste sich auch das Rätsel um mein
andauerndes, wiederholtes Kranksein auf: Wasserfilter müssen ausgetauscht
werden, das älteste Essen in der Küche ist nicht für europäische Mägen
geeignet. Keinesfalls vermute ich eine böse Absicht dahinter – nur ökonomisches
Handeln. Und ich hatte auch schöne Zeiten in meiner Familie, wenn ich indische
Gerichte lernte oder wir gemeinsam eine schlecht produzierte, dramatische
TV-Serie schauten, die die Wiederheirat thematisiert. Bald ist die Zeit
gekommen, nach Allahabad umzuziehen. Bereits in Deutschland musste ich
feststellen, dass bezahlbare Unterkünfte während der Purna Kumbh Mela in
Allahabad, die nur alle zwölf Jahre stattfindet, unauffindbar sind. Schließlich
vereinbarte ich mit Unterstützung meines Hindi-Lehrers ein Zimmer in einem
Swiss Cottage auf einem Privatgrundstück. Während meines Besuches bei den
Besitzern lernte ich, was ein Swiss Cottage ist: Wenig hat es mit einem Cottage
zu tun, es handelt sich lediglich um ein besseres Zelt mit drei Räumen, für die
während der Kumbh Mela jeweils 25.000 Rupien (selbstverständlich ohne
Mahlzeiten), etwa 360€, verlangt werden können. Nachts liegen die Temperaturen
im Februar übrigens bei etwa 10°C.
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Chat Puja |
Aber ich habe
keinesfalls einen furchtbaren Aufenthalt. In Varanasi habe ich mich gut
eingelebt und ich bin traurig, dass ich es schon bald verlassen muss. Ich habe
Feste mit meiner Gastfamilie gefeiert, fand in einer lokalen Zeitung ein Bild
von mir, weil ich die Chat Puja (ein beeindruckendes Fest für Surya, bei dem
vor allem Frauen endlos lange in der kalten Ganga stehen) besucht hatte und schloss
Freundschaften, wo ich sie nicht erwartet hätte. Und vor allem lernte ich hier
viel Hindi. Mein Hindi-Lehrer ist sehr unkonventionell, aber auch sehr streng,
was das Sprechen in einer anderen Sprache als Hindi betrifft. Und
selbstverständlich habe ich durch die praktische Anwendung sehr viel gelernt –
so viel, dass ich meinen Alltag meistens problemlos auf Hindi meistern kann und
sogar zwei kürzere Interviews (hauptsächlich) auf Hindi geführt habe.
Nun habe ich
schon so viel über meinen Aufenthalt gesagt, ohne viel über meine Studienforschung
zu sprechen: Hinduistische Asketinnen. Im Vorfeld hatte ich beschlossen, mit
dem Sri Sarada Math in Varanasi zu arbeiten, dessen Headquarter in Kolkata
sitzt. Nach einem E-Mail- und Telefonkontakt aus Deutschland fuhr ich also
zunächst nach Kolkata, um eine endgültige, offizielle Erlaubnis für meine
Forschung zu erhalten. Nach mehrfachen Erklärungen war die Äbtin des Klosters
dann auch überraschend hilfsbereit, kündigte mich in Varanasi telefonisch an
und gab mir sogar Hinweise für Rikshafahrer. Entsprechend motiviert kehrte ich
schließlich nach Varanasi zurück und traf mich schon bald mit den Asketinnen
des Klosters. Meine Euphorie wurde jedoch schnell gebremst, als die Asketinnen
wie schüchterne Schuljungen begannen, mir widersprüchliche Signale zu geben.
Wollten sie mir auf indisch-höfliche Art und Weise sagen, dass sie nicht bereit
sind, mit mir zu sprechen? Oder waren sie wirklich so beschäftigt mit all den
Festen, dass sie keine Zeit für mich hatten? Auch
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Aghori-Asket |
Alternativen führten nicht
zum Ziel. Schließlich bekam ich drei Interviews mit einer Asketin, die zwar
forciert („it’s my duty“) und nur selten ausführlich, trotzdem aber spannend
waren. Früh wurde deutlich, dass ich nicht mehr bekommen würde, also dachte ich
über Alternativen nach. Da mir noch die Kumbh Mela bevorsteht, wollte ich mein
Thema nicht ganz ändern. Ich beschloss, meinen Geschlechtsfokus vorläufig
aufzuheben – in Varanasi treffe ich täglich auf unzählige Asketen. Doch auch
das war nicht so einfach: Es ist bekannt, dass einige Asketen gerne mir
westlichen Frauen sprechen, jedoch nicht ohne Erwartungen. Vor dem Hintergrund
meiner Erfahrungen zu Beginn in Indien beschloss ich, nichts zu erzwingen und
den Kontakt zu Asketen zu suchen, die ich auf den Ghats beobachten konnte, die
mir „sympathisch“ erschienen. Doch es stellte sich ein weiteres Problem:
Welcher Asket ist „echt“? Varanasi ist eine für Ausländer und Inder
interessante und wichtige Stadt. Von den zahllosen sadhus, die sich auf
den Ghats tummeln, verdienen die offensichtlichen Asketen (wenn sie überhaupt
Asketen sind) ihr Geld durch ihr Auftreten: Sie tragen aufwendige Tilaks,
sitzen in yogischen Positionen und fordern besonders Ausländer auf, ihnen Geld
zu geben. Die vielleicht „echten“ Asketen sind nicht zwangsläufig als solche
erkennbar. Oder laufen seit zwölf Jahren nicht mehr und laufen trotzdem zur
Ganga – vielleicht aber auch nur eine Illusion, die sie mir durch ihre durch
Askese angesammelten Kräfte vorspielen konnten. ;)
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