Larissa
Neick – Istanbul, Türkei
Istanbul
oder auch die Stadt der 1000 Hügel, wie ich sie nenne. Nun, seit vier Wochen
bin ich angekommen und es hört nicht auf, spannend zu bleiben...
Von
Deutschland aus hatte ich mich in den Semesterferien trotz erfolgreicher
Bewerbung an der türkischen Uni für ein
Zimmer in den Graduate Appartements, auf die Suche nach einer Wohnmöglichkeit
mit Einheimischen gemacht. Nach wenigen e-mails war es auch schon so weit und
ich hatte ein 10qm “großes“ Zimmer im Herzen Istanbuls mit einer jungen
türkischen Philosophie Studentin gefunden. Da sie vor wenigen Tagen Geburtstag
hatte, kennen mich nun auch alle ihre Freunde und die Familie. Wir wohnen zwar
zu zweit doch sind wir nie “nur“ zu zweit. Die ersten zwei Wochen lebte ihre
Cousine bei uns und ab und an wache ich auf und denke: „Nanu, wer liegt denn da
schon wieder auf dem Sofa und schläft?“ So lerne ich schon morgens, noch vor
dem eigentlichen Gang ins Bad, immer wieder neue Menschen kennen. Auch nicht schlecht – sobald man sich daran
gewöhnt hat ;).
Da
ich mit Erasmus hier bin, studiere ich an der Koҫ Universität. Das ist wohl die
teuerste Privatuni der ganzen Türkei und ja: man sieht es auch. In den ersten
Tagen war ich so perplex, dass mir auffiel, dass selbst die Aufzüge aussehen
wie in einem 4 Sterne Hotel! In den Kursen bin ich hauptsächlich mit türkischen
Studenten und die Professoren sind sehr offen in Bezug auf die freie
Meinungsäußerung, zum Beispiel hinsichtlich regierungsbezogenen Themen. Auch
der Türkisch Sprachkurs macht Spaß – obwohl ich mich immer noch chronisch
überfordert fühle, wenn wie heute das Telefon klingelt und die Tante meiner
Mitbewohnerin anruft. Immerhin ein kleiner Erfolg - sie hat mich verstanden :).
Aber: yavaş yavaş (langsam langsam) - es
wird von Woche zu Woche besser und vor willigen Tandempartnerinnen kann ich
mich kaum retten.
Von
meiner Wohnungstür bis zur Uni brauche ich ca. zwei Stunden und anfänglich
hatte ich mich noch darüber aufgeregt und, wie es die Deutschen wohl tun, nach
der schnellsten Transportmöglichkeit gesucht. Mittlerweile habe ich akzeptiert,
dass es in Istanbul einfach so ist. Insbesondere nachdem ich selbst von vier
(!) Taxifahrern eines Tages zu hören bekam, ich solle doch bitte einen anderen
Taxifahrer fragen ob er mich mitnimmt mit der Begründung, dass einfach viel zu
viel Verkehr ist. Ja, spätestens dann realisiert man, dass manche Dinge
„einfach so sind wie sie sind!“. Seit dem ersten Tag an der Universität fahre
ich jedes Mal auf einem anderen Weg zur Uni. Ja, auch Wege und Zeit auf der
Strecke zu lassen, kann spannend sein. Einmal mit dem Dolmuş, dann mit der
Metro, dann wieder mit dem Bus und am Ende doch wieder mit dem Dolmuş. Es macht
Spaß. Und auch wenn die Abgase schon in meiner Kehle kratzten, nachdem ich 2
Stunden bei offenem Fenster im Dolmuş im Stau saß, so hatte ich doch von Anfang
an ein unergründliches Vertrauen in die Stadt. Ich versuche mich, ich frage und
frage – obwohl ich die Antworten meistens nicht verstehe. Aber das macht gar
nichts, denn es macht Spaß und die Türken freuen sich.
Istanbul.
Es ist nicht so, wie ich es in Erinnerung hatte. Sicherlich, das Wetter ist nun
kalt und regnerisch. Der Winter beginnt. Aber das meine ich nicht. Ich habe das
Gefühl einzutauchen in Umbrüche. So spüre ich deutlich, dass sich in der
Zivilgesellschaft etwas bewegt. Ich kann es nicht benennen. Ich sehe Bilder mit
Schablonen an Hauswände gesprüht von den bei den Demonstrationen Verstorbenen,
ich sehe bunte Treppen (ein Künstler begann damit die Stufen einer Treppe in
verschiedenen Farben anzumalen, es wurde überstrichen, in ganz Istanbul fingen
darauf hin die Menschen an Treppen in allen Regenbogenfarben anzumalen), ich
sehe Straßenkünstler singen, singen von einer anderen Welt, ich sehe die Kinder
die zuvor am Taksim Tempotaschentücher
verkauft hatten und nun aufgrund der urban transformation (zwangs-) umgesiedelt
wurden und in Kadiköy abends Trommel spielen und ich sehe Polizei. Ich sehe sie
stehen in voller Ausrüstung, ich sehe sie die Wege absperren als menschliche
Blockaden und den Zivilisten wird ein Meter gewährt um sich auf die andere
Strassenseite zu bewegen, ich sehe sie in Bussen – vielen Bussen, ich sehe sie
am Abend und am Tag und ich sehe sie in Zivil - wenn auf einmal neben mir 20
junge Männer anfangen zu rennen und sich über walki talki verständigen. Es hat
sich vieles verändert...
Ich
sehe ein Land zwischen Orient und Okzident, das die Grenzen der individuell
empfundenen Zugehörigkeit wohl seit langem nicht mehr so deutlich aufgezeigt
hat wie es das jetzt tut.
Bezüglich
meines Studienprojektes fühle ich mich gerade wie eine Füchsin in
Lauerstellung. Mir fällt auf, dass mein Thema die hier lebenden Türken nicht
sonderlich zu beschäftigen scheint. Es ist für viele Studenten mit denen ich
sprach, zu weit weg. Momentan verharre ich wartend und verfolge alle Fährten
und schreibe die Informationen aber auch die anderen Themen welche die Türken
von selbst an mich heran tragen, auf meinem kleinen türkischen Rechner nieder.
Desweiteren habe ich mich jetzt von der Koҫ Universität aus für ein Praktikum
bei der Helsinki Citizens Assembly (refugee advocacy and support program)
beworben – die Antwort steht noch aus. Und: jetzt gilt es die Kontakte welche
ich von Deutschland aus geknüpft habe zu treffen. Die vier Wochen sind in
Windeseile verstrichen aber es bleiben noch weitere sechs Monate.
Es
ist nicht nur so, dass ich viele junge Menschen an Universitäten kennen gelernt
habe und kennen lerne, sondern auch viel mit meiner Mitbewohnerin unternehme.
Eines Tages sind wir morgens mit anderen Freunden zum Frühstück (der wohl
wichtigsten Mahlzeit für Türken) aus gegangen und kamen abends um neun Uhr
wieder nach Hause. Mir wurde von einer türkischen Freundin gesagt, dass ich
einfach lernen müsse „mit den Türken mitzugehen“. Und das lerne ich gerade.
Und
ich bin dankbar, hier zu sein.