Die
Zeit steht still
Ein neuer
Lebensabschnitt beginnt. Neue Aufgaben und Ziele erwarten mich. Am 18.8 bin ich nach
etwa 18 Stunden Reisezeit am Flughafen in Tbilisi, der Hauptstadt Georgiens,
angekommen.
Es war vier Uhr nachts/morgens, aber selbst um diese Uhrzeit
warteten meine Verwandten auf mich. In meinem neuen Zuhause angekommen, wurde
mir ein kleines Zimmer zur Verfügung gestellt, in dem ich ungestört schlafen
und arbeiten konnte. Schlafen war wirklich nötig, denn die Reise war nicht ganz
einfach. Mein Reisekoffer bestand nur zur Hälfte aus meinen eigenen Sachen, die
andere Hälfte war mit Geschenken und nützlichen Dingen für die Verwandten
gefüllt. Insgesamt beförderte ich auf meiner Reise 40 Kilogramm Gepäck, bei
vorgeschriebenen 20 Kilo, ohne auch nur einen Cent extra zu bezahlen. Dies ist
die Kunst, die man lernt, wenn man Verwandte besucht.
In den nächsten zwei
Tagen begleitete mich eine innere Ruhe und eine leichte Trauer. Die Ruhe umgab
mich, weil mir das Land nicht fremd war, weil ich wusste was mich erwartete und
weil ich alles geplant hatte. Kein Schock oder Beben rüttelte an mir, aber auch
die große Aufregung, das Gefühl etwas vollkommen Neues zu beginnen, blieb aus. Ich packte meine
wenigen Sachen aus und verteilte die wichtigen Mitbringsel. Ich stellte zugleich
einige Mindmaps und Planskizzen auf, um meine Ziele und Ideen im Auge zu
behalten. Die restliche Zeit verbrachte ich mit lesen, schlafen und essen. Los geht’s! Aber
langsam, denn ich habe Zeit.
Am
ersten Tag wurden mir alle frischen georgischen Lebensmittel auf den Tisch
gestellt. Das
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Fladenbrot-Boat mit Käse, Butter und Ey |
Beste was die Jahreszeit hergab. Ob aromatische Tomaten, kräftige
Gurken oder das fantastische Fladenbrot, alles schmeckte ausgezeichnet. In den
nächsten Tagen probierte ich die Früchte des Sommers, die ein anderes Leben
kannten, als unsere kalten, in Plastik verpackten Supermarktprodukte.
Wassermelonen, die so süß waren, dass sie beim Aufschneiden platzten.
Pfirsiche
deren frischer Duft bereits aus weiter Entfernung die Nase verführte und Weintrauben
in unzähligen Sorten. In Georgien führt jeder „gute“ Haushalt eigene Rebstöcke
und ermöglicht sogleich eine Vielzahl an Weinsorten. Der hergestellte Wein ist
schließlich das zweite Blut Georgiens. Mein persönliches Highlight bilden die
verschiedenen Käse- und Bohnentaschen. Die in eigenartigen Variationen, mal
rund mal viereckig, den Hunger hervor locken und den Magen für einen halben Tag
füllen.
Das gute Essen ist
wichtig, wenn man sich in der Hitze des Tages in der Stadt bewegt. Um die
Mittagszeit erreichen die Temperaturen an die 35°C und die Stadt erstickt in
Verkehr und
Staub. Ich vertrug die Hitze unbeschwert und machte mich auf, die
alten und versteckten Winkel Tbilisis zu entdecken. Egal ob mit der U-Bahn oder
dem (Klein)Bus, die georgische Fahrweise bleibt hektisch und für mich ein chaotisches
Rätsel. In den Tagen darauf erkundete
ich die Stadt. Dabei verließ ich die oft prunkvollen und angeberischen
Einkaufsalleen, die zu überteuerten Preisen Wohlhabenden und Touristen die
„exklusiven“ Schätze Georgiens anboten, und suchte die Parallelstraßen mit
ihren sowjetischen Altbauten auf. Vielleicht sind diese verfallenen Häuser für
die Bewohner nur eine unbequeme Hütte, für mich sind die verflochtenen und
rissigen Balkone in der Abendsonne Georgiens ein herrliches Fotomotiv. Später
bestieg ich den Hügel der Königin Tamara und ließ die Stadt vor meinen Füßen im
goldenen Glanz der Spätsommersonne zerfließen.
Weil russisch meine
zweite Muttersprache, fiel es mir sprachlich nicht besonders schwer mit anderen
Menschen zu kommunizieren. Dennoch gebe ich mir jeden Tag Mühe, die georgische
Sprache zu lernen und nun ja, zu lernen. Welch ein Glück, dass ich Lehrbücher
mitgenommen habe. Die Sprache ist ein wirkliches Unikat. Ihre Schrift und ihre
Aussprache, bei der manche Laute einem verschluckten Fischknochen ähneln,
machen sie weltweit unvergleichbar. Mit jedem Tag an Übung fällt es mir
leichter, georgisch zu lesen und die Wörter zu erkennen.Die Sprachfähigkeiten
nutze ich um mit meinen Verwandten oder Freunden zu kommunizieren. In meiner
Situation kann es leicht passieren, dass man sich sozial isoliert. Besonders
weil ich noch kaum Kontakte zur Universität, dem Sprachkurs oder dem
Sportverein habe – all dies beginnt erst Ende September. Dennoch versuche ich
bei allen Aktivitäten meiner Verwandten
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Kurze Lernunterbrechung |
und Freunde dabei zu sein. Ein Beispiel
dafür: Am ersten Tag waren meinen Cousin und ich abends unterwegs. Wir
gesellten uns zu einer Gruppe von Männern die in der Nachbarschaft wohnten und
tranken Bier bei bunten Gesprächen über deutsche Autos und die Syrien-Krise. Ich
erfasste einige Beziehungsgeflechte zwischen den Nachbarn und konnte sogar
Konfliktfälle deuten. Früher hätte ich vermutlich nur wenig Bewusstsein für
solche Strukturen gehabt.Hin und wieder komme
ich auf mein Studienprojekt zu sprechen und entdecke viele neue Möglichkeiten
und Informationen dazu. Noch bin ich in der Planungsphase und völlig offen in
welche Richtung meine Fragen zielen sollen. Glücklicherweise kommen die besten
Ideen zufällig. Bald werde ich für die Fragen und Antworten des Projektes auf
Reisen gehen und bestimmte Orte Georgiens besuchen. Unterstützung finde ich
später hoffentlich von den georgischen Ethnologen.
Artur Mordowin
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