Mittwoch, 18. Dezember 2013

Friedemann Weihs - Pingdong, Taiwan

Friedemann Weihs – Pingdong, Taiwan
Auslandsaufenthalt: September 2013 - Februar 2014


Eine Reise von tausend Meilen beginnt unter deinem Fuß (Dao de jing)


Doch die Reise beginnt nicht mit dem Verlassen des eigenen Hauses. Sie beginnt schon mit der Vorbereitung. So war es lange Zeit für mich nicht klar, wo hin es eigentlich genau gehen soll. Es sollte ein chinesisch-sprachiges Land sein, um meine Sprachkenntnisse zu vertiefen.
Ich überlegte mir etwas in den Städten Singapur, Hongkong und Shanghai zu machen – studieren oder arbeiten, doch irgendwie klappte nichts davon.
Also wie sollte es weitergehen?! Durch Zufall sah ich eine Rundmail im Verteiler des sinologischen Seminars, dass das Ministerium für Bildung der taiwanischen Regierung kurzfristig weitere “Huayu”-Sprachstipendien ausschrieb. Die Entscheidung musste über das Wochenende gefällt werden. Es gab einen weiteren Monat Zeit alle nötigen Unterlagen zusammen zu bekommen.
Die Entscheidung meinerseits war also getroffen: Diese Chance nehme ich war – und es klappte!
Doch bevor ich das Stipendium antreten sollte, mussten weitere Dokumente eingereicht werden bei der Sprachschule der National Pingdong University of Education (NPUE), für die ich mich
Doch irgendwie gab es mit der Ausstellung ein Problem, da aus Kostengründen kein Arzt bereit war solch einen Test zu machen. Die Uhr tickte weiter, bis das Gesundheitsamt einlenkte und direkt eine Röntgenuntersuchung bewilligte.
Wenige Stunden vor der offiziellen Frist waren alle Dokumente nun beisammen und ich nun offizieller Huayu-Stipendiat.
Die ersten Schritte der Reise waren von mir nun begangen worden.



Aller Anfang ist schwer


Nach rund 24 Stunden Reisezeit um von einem kleinen Ort in Süddeutschland zu meinem Zielort zu gelangen, erwartete mich in Pingdong dennoch kein Bett. Zuerst wurde ich vom Abholservice der NPUE zu eben jener gebracht, um meine Betreuer kennenzulernen und um das Wohnheim zu besichtigen, ob es denn meinen Belangen reichen würde. Da ich mir vornahm unter Studenten zu wohnen, war für mich ein Mehrbettzimmer und Gruppenduschen kein großes Hindernis.
Die ersten beiden Wochen hingegen wurden zu einer echten Probe.
Mit der Ankunft in Taiwan meldete sich mein Körper. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit der Tropen machten sich stark bemerkbar in Form von Schweißbädern und darausresultierender Erkältung.
Die unausgewogene Ernährung half auch nicht bei der Akklimatisierung. Aber wie sollte ich nun von dem äußerst praktischen (und weniger gesundem) Essen von 7-eleven und FamilyMart – zwei äußerst wichtigen Convenience Store-Ketten in Taiwan – wegkommen, wo man kaum Sprachkenntnisse braucht, um sein fertiges Essen zu bekommen? Selber kochen geht in einem taiwanischen Wohnheim nicht, wenn man von Fertignudeln absieht.
Also Anwenden der Grundregeln: Kannst du etwas nicht, dann frag nach und beobachte, wie es die anderen machen.
Dennoch gehört nach drei monatigem Aufenthalt der tägliche Gang zu einem der beiden Lädenketten dazu. Immerhin sind drei Mahlzeiten basierend auf Reis oder Nudeln selbst für Taiwanesen zu viel (auch wenn diese es auf ganze zwei schaffen). Außerdem gehören die Lädenketten zum täglichen Leben dazu. Das meiste was man braucht findet man dort. Kaufen von Lebensmittel, Süßkram, Zeitungen, Hygieneutensilien, die Paketaufgabe und auch Bezahlung der Rechnungen und Parktickets ist dort möglich.
Bei dem anfänglichen Behördengängen zur Registrierung als Ausländer mit vorrübergehendem Wohnsitz in Taiwan – was sich als notwendig herrausstellte, wenn man ein Bankkonto oder eine SIM-Karte möchte – half mir zum Glück meine Betreuerin, denn die Bürokratie hat deutsche Ausmaße, ohne deren “Präzision”. Das bedeutet, dass selbst die zuständigen Beamten nicht hinterherkommen mit Änderungen und Sonderregelungen, was dazu führt, dass auch meine sonst ruhige und gelassene Betreuerin kurzzeitig schroff wurde.
Eine weitere Herausfordung stellte sich mir beim Straßenverkehr. Für jemanden, der nur die deutsche Straßenkultur gewöhnt ist, erwartet in Taiwan ein heilloses Chaos. Was für mich nicht gerade ungefährlich war.
Zum Glück für Ausländer weiß anscheinend jeder Straßenteilnehmer, dass “Amerikaner” auf taiwanischen Straßen überfordert sind und fahren wesentlich vorsichtiger, wenn sie einen sehen. 
Mittlerweile sind mir die meisten Grundregeln klar. die befolgt werden sollten. Ein wichtiger Schritt, auch wenn ich mich noch immer nicht wage, selbst auf ein Fahrrad oder Motorroller (wohl das wichtigste Transportmittel überhaupt) zu setzen.





Lerne nicht um einiges zu verstehen, lerne um die Welt zu verstehen.


Der Schwerpunkt meiner Reise sollte das Lernen der Sprache und der Kultur werden. Durch das Stipendium ergab sich auch, wieviel Zeit ich mindestens dafür investieren muss: 15 Stunden pro Woche plus Hausaufgabe – also ein Vollstudium.
Durch die bestehenden Sprachprobleme, dass ich mehr chinesisch verstehe als spreche – was aber leider auch nicht genug ist – musste ich mich erstmal von der Idee verabschieden, dass ich direkt mit der Bearbeitung meiner Forschungsfrage zum Thema der “gelebten Religiösität bei Studierenden” anfangen kann.
Da ich trotz Studiums genug Zeit hatte (und habe) dennoch etwas nebenher zu machen, entschloß ich mich, einem studentischen Club beizutreten.
Die Auswahl die mir dabei geboten wurde, war enorm. Nach längerem Überlegen entschied ich mich dabei für etwas kulturelles: dem Aboriginal Culture Club. Wie ich dort erfuhr gibt es in Taiwan 14 offiziell anerkannte indigene Gruppen und weitere (noch) nicht anerkannte. Der Club konzentriert sich dabei hauptsächlich auf das Lernen und Lehren der Tänze und Gesänge dieser Gruppen, um diese zu erhalten. Somit lerne ich nun etwas, was ich vorher als unsportlicher Mensch nie in Betracht ziehen wollte – und ich bin immer wieder erstaunt darüber,  welche Gelassenheit die Clubmitglieder an den Tag legen, trotz der Verständigungsschwierigkeiten und dem schwerfälligem Lernen der Tänze meinerseits.
Doch man ist nicht nur Lernender, sondern auch Lehrender. Aus diesem Grund wurde ich von meinen Betreuern gebeten an einem Projekttag an einer Schule teilzunehmen und einer Schulklasse etwas über Deutschland zu erzählen.
Wie es nunmal aber ist, wurde mir vier Tage vorher kurz mitgeteilt, dass es eine kleine Planänderung gab. Aus einer Klasse wurden eben 17. Also musste das Programm überarbeitet werden, denn Gruppenarbeiten mit geschätzten 500 Schülern funktioniert nicht. Aber auch diese Herausforderung konnte ich – auch dank der Übersetzungen der Englischlehrer – überwinden.



Keine Straße ist zu lang an der Seite eines Freundes.


Nun hat für mich die zweite Hälfte meines Auslandsaufenthaltes und der dritte Teil meiner Reise begonnen. Ich bin nicht mehr so planlos wie zu Beginn meiner Reise.
Das neue ist nicht mehr ganz so neu, aber immernoch faszinierend. Es steht mir noch eine ganze Menge Arbeit bevor und auch eine ganze Menge Erfahrungen, die sich schon angekündigt haben und wohl noch mehr, die spontan durch ein kleines Gespräch am Rande mit einem Fremden geschehen.
Das was ich bisher am häufigsten erfahren habe:
Fremde werden zu Lehrern und Lehrer zu Freunden.


Ich wünsche euch schöne Festtage!

Montag, 9. Dezember 2013

Darya Czepurnyi - London, England



Darya Czepurnyi – London, England

Fast jeder Europäer war schon einmal in der Metropole London - sei es mit der Schulklasse, oder auch so, für einen Kurztrip. London zählt zu der bevölkerungsreichsten Stadt der EU, in der um die 8 Millionen Menschen leben, was man auch deutlich zu spüren bekommt. Egal, welcher Wochentag gerade ist, es ist immer viel los auf den Straßen. Auch ich bin bereits schon vor diesem Aufenthalt als Tourist in London unterwegs gewesen, und habe  mir die üblichen Sehenswürdigkeiten, wie den Buckingham Palast, Big Ben, Tower Bridge etc. angeguckt. 

[Photo by Darya Cz.; taken 2/10/2013]


Es ist jedoch ein großer Unterschied, ob man als Tourist nach London kommt und nach einigen Tagen wieder nach Hause fährt, oder aber für längere Zeit hier wohnen bleibt. Man betrachtet diese Stadt einfach mit anderen Augen. Als Tourist ist man im ersten Moment von der Größe und den gigantischen Bauten dieser Stadt überwältigt. Aus den Augen eines neuen Einwohners stellt man jedoch sehr schnell die Unterschiede und die Eigenarten fest, an die man sich erst einmal gewöhnen muss. Eines der Eigenarten sind die separaten Wasserhähne am Waschbecken - einen fürs heiße, und den anderen fürs kalte Wasser. Da fragt man sich schon, wer sich so etwas ausgedacht hat, und welche Logik da hinter steckt?! 

Bereits während der Planung, meine Forschung in England durchzuführen war mir bewusst, dass das Leben in England, speziell in London, sehr teuer ist. Aber die tatsächlichen Kosten bekommt man erst vor Ort zu spüren, Trotzdem habe ich es gewagt, auch ohne Stipendium, Auslandsbafög oder anderer finanzieller Hilfen nach England zu gehen, um dort meine Forschung zu Russisch-sprachigen Migranten in England durchzuführen. Zum einen ist es der Lebensstandard, der in England um einiges niedriger ist, als in Deutschland. Das sieht man schon an der Qualität der Zimmer, die einem hier zur Miete angeboten werden. Die Nachfrage an Wohnraum scheint hier sehr groß zu sein, so dass die Immobilienmakler ihren Profit daraus schlagen können.

Meine erste Station in England war Cuffley, ein kleines, wohlhabendes Dorf mit gerade mal 4.000 Einwohnern. Cuffley liegt im Bezirk von Welwyn Hatfield, im Süd-Osten von Hertfordshire. Mit dem Zug erreicht man das Zentrum Londons in gerade mal 30 Minuten. In Cuffley war ich in einer Familie mit zwei kleinen Kindern untergebracht, was für die  Verbesserung meiner Englischkenntnisse von Vorteil war. Außerdem ist es von den Mietpreisen her natürlich günstiger, als im Zentrum Londons zu wohnen.  

[Photo by Darya Cz.; taken 8/11/2013]
Zu meiner Forschung kann ich sagen, dass man in Deutschland kaum etwas über russisch-sprachige Migranten in England weiß, und auch in der wissenschaftlichen Literatur setzt sich kaum jemand mit diesem Thema auseinander. Öffnet man jedoch im Internet die Seite der russischen Botschaft in Großbritannien, so war auch ich überrascht zu sehen, wie viele russische Vereine/Organisationen in ganz England verstreut sind. Die meisten davon befinden  sich jedoch in London. Nach der Kartierung des International Organization of Migration (IOM) von 2007 in London, leben in England um die 300.000 Russen und russisch-sprachige Personen, Die meisten davon in Greater London, welches die zentralen Bezirke City of London, City of Westminster sowie 31 weitere Londoner Stadtbezirke (London Boroughs) umfasst. 300.000  scheint zunächst nicht sehr viel zu sein. Das liegt jedoch daran, dass die Größe der russischen Diaspora in England schwer zu fassen ist. Die Personen, die die russische Sprache sprechen, sich selbst als Russen und auch von anderen als Russen gesehen werden, müssen nicht zwingend Russen sein. Sie können genauso aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, und wurden somit nicht in der Erhebung des International Organization of Migration mit aufgenommen. Deswegen sieht es ganz danach aus, dass in England sehr viel mehr russisch-sprachige Migranten leben, als aus den Statistiken hervorgeht. Durch den Kontakt zur russischen Schule “Znaniye Education Centre” in London und im Interview mit der Leiterin der Schule habe ich erfahren, dass auch dort nicht nur Russen, sondern immer mehr Kinder aus russisch-sprachigen Familien, die schon in England geboren sind, die Schule besuchen. Was mich persönlich jedoch sehr überrascht hat war, dass auch andere Nationalitäten, wie z.B. Araber, den Russischunterricht besuchen. Der Grund dafür sei wohl die hohe Nachfrage an Russischkenntnissen auf dem britischen Arbeitsmarkt, da wohl immer mehr Beziehungen zu russischen Firmen aufgebaut werden. Die Russische Schule wurde im Jahr 2003 gegründet, und hat am 8.11.2013 ihr 10-jähriges Jubiläum gefeiert, an dem ich dabei sein durfte.

Sonntag, 17. November 2013

Roxanna und Maria - Tamil Nadu, Indien



„Und plötzlich hatten wir 80 tamilische Brüder“ - Aus dem Alltag im Anbu Illam „Orphanage“

Ein bisschen abseits der eigentlichen Stadt Thanjavur, mit dem großen Tempel, steht das Waisenhaus Anbu Illam, getragen von der Mother Teresa Foundation. Um die 80 Jungs von 7 bis 20 Jahren, ein Großvater der jeden Tag kocht, zwei Mütter, die als Freiwillige bei allem helfen - und wir, zwei Freiwillige aus Deutschland, die – das sind die festen Bewohner und Mitarbeiter in Anbu Illam.  


Ein typischer Tag beginnt für die Jungs schon um fünf Uhr, sie baden auf dem Dach, waschen ihre Wäsche und ziehen ihre Schuluniform an. Ab halb sieben bis acht wird dann erst einmal gelernt. Für uns beginnt der Tag um 6:20, denn ab sieben geben wir den 6. bis 8. Standards Englisch Leseunterricht. „Kale Vanakkam“ Um acht Uhr gibt es endlich Frühstück, das, wie jede Mahlzeit, aus Reis besteht. Auf die Frage „Sappidingla?“ – wir verzichten. Denn zum Frühstück auch noch Reis essen geht gar nicht. Es folgt das allmorgendliche Ritual an Schultagen, dass sich alle 3. bis 10. Standards in Zweierpärchen in einen langen Zug aufstellen, was gar nicht einfach scheint. Zur nahgelegenen Elementary und Highschool sind es nur knapp 10 Minuten zu laufen. Vor der Schule verabschieden sich die Jungs mit einem winkenden „Bye, aakkaa!“*, und wir haben den Vormittag für uns. Die älteren Jungs haben sich derweil schon selbstständig zu ihren Schulen aufgemacht.
Zum Mittagessen sind die meisten wieder da, und dieses Mal essen wir mit ihnen – Reis mit Sambar und einer täglichen Variation an Gemüse. An besonderen Tagen wird das Essen auch mal gesponsert, dann gibt es eventuell zusätzlich Nachttisch oder auch mal Fleisch. Bis um 16:30 sind die Jungs dann nochmal in der Schule. Wir vertreiben uns die Zeit, indem wir die Stadt erkunden oder auch mal Mittagsschlaf halten, denn vor allem am Anfang mussten wir uns sehr an die dauernde Hitze gewöhnen.  



 „Male Vanakkam“ Wenn die Jungs aus der Schule zurück sind, gehen sie erst einmal ausführlich Cricket oder Fußball auf dem gegenüberliegenden Feld spielen. Da das Feld auch als Straße dient, fährt auch ab und an ein Motorrad, Kleinbus oder Schulbus durch das Spielfeld. Manchmal kommt eine Kuh durchs Bild gewackelt oder der Cricketball fliegt in  einen der Gräben, der als Müllsammelplatz dient. Einmal geschah es, dass der fliegende Cricketball in einer vorbeifahrenden Rickshaw landete und davonfuhr. Da schauten die Jungs ganz schön doof aus der Wäsche, einer musste schließlich hinterherrennen. Um fünf ist das Spielen vorbei, es wird gebadet, und dann gibt es Chaia und Snacks.
Für uns oft der anstrengendste Teil des Tages, die „Studytime“ ist von sechs bis acht. Nun müssen alle Jungs, nach Standards geordnet, Hausaufgaben machen und lernen. Die Ältesten lernen für sich, die 8. bis 10. Standards haben eigene Tutoren. Unsere Aufgabe ist es, die allerjüngsten 3. bis 6. Standards zu beaufsichtigen und oft zu beschäftigen. Dabei lieben sie es, wenn wir für sie malen und zeichnen oder anders herum.
Da es eine christlich orientierte Einrichtung ist, wird von acht bis kurz vor neun täglich der Rosenkranz gebetet. Auch vor dem Lernen und dem Essen gibt es stets ein Gebet. Dann gibt es Abendessen, die einzige Mahlzeit, wo wirklich alle Jungs zusammen Essen – wieder Reis mit Sambar und Gemüse. Wenn wir einmal nicht mitessen, weil wir zu viel von Reis haben, folgt die sorgenvolle Frage ob wir denn krank seien. Hat einer der Jungs Geburtstag, was mindestens einmal die Woche vorkommt, gibt es davor noch Kuchen und es wird gesungen. Als große Schwestern dürfen auch wir dem Geburtstagskind ein Stück Kuchen füttern.
Es folgt die schönste Stunde des Abends, die „Gamestime“. In dieser albern wir ausgelassen mit den Kleinen und Großen herum, besonders auf Kitzeln und Daumenwrestling fahren sie voll ab. Wir spielen viele Runden Uno, Karambol oder Romie mit ihnen. Bekommen auch ab und an indische Filmsongs vorgesungen, u.a. „Why this kolaveri“ oder sie zeigen uns, wie Tamilen in der Disco tanzen. Um kurz nach zehn müssen schon alle ins Bett außer die Ältesten, die noch fleißig Lernen – „Iravu vanakkam – Good night“!

So schön es hier auch sein mag, es gibt auch einige Schwierigkeiten:
„Lost in translation“ scheint hier unser tägliches Motto zu sein. Wir können zwar ziemlich gut Englisch, aber die Jungs, vor allem die ganz kleinen, können dies so gut wie gar nicht. Auch mit den ältesten Jungs gibt es ab und an Kommunikationsschwierigkeiten und es kann, für beide Seiten, ganz schön frustrierend sein, wenn der andere einen nicht versteht. Sprache ist unglaublich wichtig!
Wir mussten auch feststellen, dass es ganz schön nervenaufreibend sein kann jeden Tag immer dasselbe (Reis) zu essen. Man fängt an, das Essen zu Hause zu vermissen. Deswegen gehen wir auch einmal in der Woche auswärts essen, damit uns der Reis nicht irgendwann aus den Ohren heraus quillt.
Was wir uns hier immer sicher sein können:
Ist die Tür unseres kleinen Zimmers offen, das immer zwei drei Köpfe reinschauen, um zu fragen was wir machen.
Das sich unsere Kameras größter Beliebtheit erfreuen, und wir sie mit vielen Poser-Fotos zurückbekommen.
Das wir, egal was wir machen, stets von zehn großen und kleinen, liebenswerten, fröhlichen und neugierigen Jungs umgeben sind!
*„Baaaye, Mariakka, Roxannakka!“ – „Baaaye!!“ – „No, you’re not boy, you’re a girl“ – „Okay, then tschus –ade.“
- Es berichteten Roxanna und Maria aus Thanjavur, Tamil Nadu - Indien

Montag, 11. November 2013

Gunilla Grün - Orissa, Indien



Für 4 ½ Monate verbringe ich mein Auslandssemester gemeinsam mit zwei Kommiliton/Innen aus Tübingen, Anne und Carl, an der Sambalpur University in Jyoti Vihar, Burla in dem indischen Staat Odisha (Orissa). Mit Carl reise ich zeitgleich an. Im Anschluss an der universitären Teilnahme des hiesigen Semesters haben wir einen weiteren guten Monat (gemeinsame) Reise durch andere Regionen geplant. Anne ist bereits vor uns angekommen und ist uns in punkto Indienerfahrung und Sprachkenntnissen um Einiges voraus. Sie wird eine eigenständige kleine Forschung betreiben, während wir unsere Feldforschungen, deren Inhalte noch nicht feststehen, im Kontext des dritten Semesters des Masterstudienganges Anthropologie gemeinsam mit den anderen indischen Student/Innen absolvieren werden.
Die Situation vor Ort lehrt mich schnell: Die Realität ist immer anders als das Konstrukt.
(Text & Fotos von Gunilla Grün)



TEIL 1
Der Weg zu Gelassenheit?
August 2013 bis Januar 2014 in Indien. Anreise auf den letzten Sprung.
Eine Woche vor Reiseantritt findet sich spontan doch noch eine (mir fremde) Person, die eines meiner Zimmer der Tübinger Wohnung anmieten will, allerdings direkt am folgenden Tag. In einer Nachtaktion räume ich es leer. 
Da das Geld des Stipendiums auf meinem vormals leeren Konto erst spät eintrifft, bin ich gezwungen mich im „Hardliner-Verfahren“ geballt in den letzten vier Tagen mit allen noch möglichen Impfungen vollpumpen zu lassen – ich, als resoluter Impfgegner!! Was tut man nicht alles, um sein Ziel zu verwirklichen! Stoisch vertraue ich auf meine körperliche Robustheit.


Drei Tage vor Abreise „überführen“ zwei Freunde mit mir das Meiste der gepack-ten Habseligkeiten meiner Wohnung nach Franken, da ich diese Bleibe nach meiner Rückkehr aus Indien dann bald werde auf-geben müssen.
Einen Tag vor Abreise befindet sich mein Visum in der Post.
Fünf Stunden bevor mein Zug Tübingen in Richtung Zürich verlässt bringe ich Recher-chematerial in die Unibibliothek zurück, zwei äußerst knappe Stunden vorher bin ich immer noch dabei, Umzugskisten in meiner Wohnung zu packen und notdürf-tig Küche und Bad zu putzen. Dann steht der zweite, bis dato verschollene, meiner zukünftigen Untermieter unerwartet vor der Tür – ich entlasse ihn entnervt ohne schriftlichen Mietvertrag und hoffe aufs Beste. Wochenlange Auseinandersetzungen darüber, was alles zu erledigen wäre, um den Auslandsaufenthalt angemessen anzutreten, enden in provisorischen „last-minute“ Entscheidungen.
20 Minuten vor Abfahrt „schmeiße“ ich schnell wahllos und wenig geistesgegenwärtig Klamotten und Gegenstände in meinen Koffer, nur eine Unmenge an Apothekenartikel (Kanülen, Spritzen und Verband-materialien für ein ganzes Dorf) findet „ganz nach Plan“ seine vorgesehene Bestimmung in meinem Gepäck. Recht dezent macht sich nun doch ein gewisses flaues Gefühl im Magen bemerkbar. Alles hinterlasse ich unvollendet. Habe ich Wesentliches vergessen? Die perfekte Ausgangssituation für einen langen Auslands-aufenthalt... Ach was, ist ja nur ein halbes Jahr Abwesenheit!  Karma-dharma. Hektische Handlung war genug die letzten Wochen. Nun hoffe ich auf mein Schicksal.
Zwischenstopp in Zürich: 12 Stunden verbleiben mir noch, meine Kinder nochmals zu sehen und mich von meiner Familie zu verabschieden. Alle sind sehr unaufgeregt, als wäre ich in zwei Wochen wieder da. Und selber befürchte ich das insgeheim auch. (Wollte ich nicht noch eine Auslandskrankenversicherung abge-schlossen haben?!?)
Erst am Zürcher Flughafen fügt sich alles ein, als genau die Person vor mir am Check-In-Counter ganz zufälliger Weise Carl, mein zukünftiger Reisebegleiter (und aus indischer Sicht zukünftiger „Bruder“, „Ehemann“, „Sohn“, „Beschützer“) aus Tübingen ist. Hej, es ist real! In ein paar Stunden werden wir das erste Mal in unserem Leben indischen Boden betreten! – Kalkātā, wir kommen!


Von Kalkātā nach Sambalpur – Sprung ins kalte Wasser?
Menschenhupentempeldreck
Rikschacurrybusversteck
Bettlerbrachenlumpenkot
Lebensingweratemnot

Hundeschwülegötterkuh
AugenskelettenstimmenYOU!
Händlerpferchenhimmelnah
Hindustäbchendufterbar


Sitarmessingrupienschrott
Überunternebenjob
Gassenteafortwoagent
Schocktouristenexkrement

Farbenqietschenkrüppelqual
Monsunmantragüllkanal
Stimmenräderchickenhalt
Delhidampft-urmittelalt

(Gedicht Old Delhi von Rainer Thielmann
aus: „INDIEN VON INNEN - rätselhaft magisch, wundersam fremd“)

Wie bereits ersichtlich, ist Organisation nicht meine Stärke: Vielleicht ein Zug, der mir in Indien die Akkulturation etwas weniger holperig wird erscheinen lassen? Tatsächlich ist es auch so, dass ich niemals das Gefühl habe, Indien „versinke im Chaos“. Im Gegenteil, alles scheint nach unsichtbaren Gesetzen zu funktio-nieren und sich perfekt ineinander ein zu fügen. Mir fällt eher schwer, dass es ein „Zuviel“ an Regelwerk gibt. Die koloniale Bürokratie lässt grüßen! Schnell muss ich auch begreifen lernen, dass die Regeln, welche ich zu Beginn so krampfhaft zu durchschauen suche, allesamt relativ sind. Aber Nichts geschieht rein zufällig - wie ein behäbig knarzendes doch gut geöltes Räderwerk tritt eine geheime, ungeahnte Maschinerie im Hintergrund in Kraft. Und tritt Erwartetes nicht ein, so wird ab-gewartet. Irgendetwas ergibt sich immer. Ob das Irgendetwas mir nun gefällt, dar-über muss mein anspruchsverwöhntes Selbst noch zu einer Entscheidung finden. Aber auch Geduld ist leider nicht gerade einer meiner Stärken – und dies wird mir in den kommenden Wochen noch so Manches an inneren Kämpfen bereiten, denn die Univerität in Sambalpur wird mich lehren! …
Im Flugzeug wälzen Carl und ich als jung-fräulichen Akt meinen (wenig informativen, dafür aber kiloschweren) Reiseführer und entscheiden aufgrund der Schreckensnach-richten eventuell nun doch keine Nacht in Kalkātā zu verbringen. (Carl lässt sich von den erwähnten Wanzen abschrecken). Wir gehen nochmals alle Krankheiten durch, vor denen sich ein westlicher Tourist wohl zu hüten habe und sinnieren mit Galgenhumor darüber, wen es wann und wie wohl als Erste/n erwischen wird. (Und tatsächlich werden wir einige Wochen später ein in-disches Krankenhaus von innen erleben dürfen, aber das ist eine andere Geschichte.) Schnell ist klar: Wir sind das „perfekte“ Reisegespann. Keiner von uns Beiden hat eine Ahnung von auch nur Irgendwas. Keiner hat wirklich Lust, konkret etwas im Vorfeld zu planen.
Nach unserem Check-In in Zürich hatten wir uns noch stolz und mit reichlichen Vorsätzen gewappnet unserer „letzten“ Zigaretten und Tabakpäckchen „entledigt“.

Rauchen ist in Indien in der Öffentlichkeit illegal – und schon gar Nichts für Frauen! Wir schwelgten derart lange im dunstgeschwängerten Mini-Raucherraum, um nur in letzter Minute noch das Flugzeug zu erklimmen. Bereits während des Zwischenstopps in Dubai sah man uns dann schon Zigaretten-schnorrend durch die Wandelhallen wandelnd. Rauchen, ein Thema, welches uns die kommenden Wochen mehr als intensiv begleiten wird. (Ich bin mittlerweile alle Sublimierungsversuche durch, meiner Sucht „Frau“ zu werden: Ich habe versucht, mit pān[1] zu substituieren, mich mit meinem „hohen“ Alter von 44 Jahren zu legitimieren[2], denn ältere Frauen „dürfen“ bidis (gerollte Tabakblätter) rauchen, - allerdings nur im ethnischen Kontext, dem klassischen hinduistischen Frauenbild ist das nicht gemäß -, habe versucht, „heimliche“ (ein Ding der Unmöglichkeit!!) Orte zum „sündigen“ zu finden. Alles hoffnungslos!)
In Kalkātā gelandet, begrüßt uns im „gate-way“ beim Ausstieg aus der Maschine eine Wabe dichter, feuchter Luft, gepaart mit dem den tropischen Gebieten inhärenten typischen, alles überlagernden Duft von Schimmel und feuchtem Gemäuer. Drei Tage lang werde ich diesen Geruch an mir selber und meinen Kla-motten wahrnehmen, danach haben sich mei-ne Geruchssinne angepasst. Meine Schweiß-poren allerdings schaffen es nicht, diesen Akt der Assimilation zu vollziehen. Noch nach zwei Monaten wird mich jede körperliche Anstreng-ung aussehen lassen, als sei ich frisch der Sauna entstiegen. Desweiteren begrüßt uns an den Flughafen-Ausgängen aber auch bewaff-netes Militär. Den ersten meiner zukünftig mannigfaltigen Spekulationen ist der Boden geebnet. Natürlich begehen wir sogleich auch einen folgerichtigen Fehler. Wir verlassen das gesicherte Areal, nur um daraufhin fest zu stellen, die Wechselbank wäre im inneren Bereich gewesen, der ohne gültigem Flugticket nicht zu betreten ist. Da wir keine Rupien besitzen hüte ich unser Gepäck während Carl sich auf eine mehrfache Odyssee quer durch den Flughafen begibt, um schlussendlich mit einem unter-schriebenen „permit“ zurückzukehren, welches uns den „Wieder“-Einlass ermöglicht. Huh!
Erste rkā-Fahrt durch den Stadtverkehr zum Bahnhof, ein herrliches Gefühl! Keine Angst vor quietschenden Autoreifen, malträtiert von kaum funktionierenden Bremsen, oder den willkürlich wirkenden Slalom-Manövern wenig vertrauenerweckender blutjunger Chauffeure, - sondern angenehmer schweißkühlender Fahrtwind und die Kakophonie der vieltönigen Hupen, der Geruch einer fremden Stadt und das Vorbeirasen unzähliger, viel zu vergänglicher Momentaufnahmen - das Gefühl von Leben in den Adern! Wie changierend-perlmuttfarbene Perlen auf einer Schnur im Moment des Zerreißens. Das Kullern und hohe, harte Klirren beim Auftreffen auf einem kühlen Steinfußboden, die Farben wechselnd im Spiel von Licht und Schatten der Bewegung. Beim Auf-prall sich kreuzend übereinander hüpfend, sich scheinbar vervielfältigend und gleichsam rasant entziehend, zu schnell für die Sinne und zu schnell für das Denken. Gerne würde ich dies Alles Greifen, Festhalten. Streckte  ich meine Hand aus, entzöge es sich meinen Fingern und ich griffe ins Leere. Quecksilbrig rasen meine Gedanken und Eindrücke, im Moment der Wahrnehmung bereits metamorphosierend, entgleitend, und von stetig heran rollenden neuen Eindrücken verdrängt.

Da ich zwar ohne Zahnbürste, aber mit einem Pulk an Papierkram reise, entscheide ich mich, meinen ganzen Krempel im Kalkātā-Bahnhof abzugeben anstatt ihn einen Tag durch die Stadt zu hieven. Jetzt in dieser Menschen-menge den Koffer öffnen, in der Hoffnung, ganz unten befände sich meine Kamera? Nein. Wer weiß, ob man damit nicht einen Diebstahl provoziert; die rationale Europäerin meldet sich zu Wort! Im Nachhinein bereue ich dann aber doch, den ersten Tag nicht visuell dokumentiert zu haben.

Und im Nachhinein sind Bedenken solcher Art sehr schnell hinfällig geworden, bald werde ich situativ aus dem Bauch heraus entscheiden. Weder die Suche nach dem richtigen Bus, noch das Gewusel in den Straßen empfinde ich als anstrengend. Ich warte immer auf den „Kulturschock“ des Westlers, habe Bilder von unerträglicher Armut und starrendem Dreck im Kopf, aber alles fühlt sich sehr „un-fremd“ und „un-spektakulär“ an. Ekel, dort wo er auftaucht, zerrinnt schnell bei näherer Betrachtung. Selbst die Müllberge erscheinen mir als erstaunlich „Wenige“, Abfall wird nicht willkürlich Irgendwohin geworfen, sondern nur an spezifischen Orten: Zu schon existierendem Müll oder um den Essens-stand herum (was täglich vom Inhaber beseitigt wird). Da das Klima schnell kompostiert und der Rest verbrannt wird, erscheint mir das nur logisch.
Alles wirkt einfach nur unmittelbarer auf mich ein – und dieses Gefühl genieße ich. In der Anonymität der Stadt, kann ich mir jede Blöße erlauben (wie naiv auf gut Glück auf fahrende Busse aufzuspringen, während alle Umstehenden grinsen). Beobachtet zu werden irritiert mich nicht, denn ich Selber bin es ja, der gaffend und alles einsaugend durch die Gassen wandert. Seltsamerweise empfinde ich eine Art Urver-trauen und fühle mich sofort wohl. Ich habe die Gewissheit, mich auf mich und meine Entscheidungen verlassen zu können, denn die Resultate sind zeitnah spürbar. Später, im universitären Kontext, wird sich das für mich wesentlich anders darstellen.
Noch in Kalkātās Straßen wird Carl, sozusagen als erster Akt der „Initiation“, von mir auf einen Barbier-stuhl gelotst, wo er nicht nur in Windeseile – unter kindlichstem Amüsement der sich ansammelnden (männlichen) Menschentraube – seiner Haarpracht be-raubt wird sondern auch in den Genuss einer angst-einflößend rasanten Rasur mit Messer und einer unzähligen, auf Borden aufgereihten Menagerie von industriellen Schönmachern und Duftwässerchen kommt (inklusive Zehn-Sekunden-Massage). Mehrfach wird die ganze Prozedur durch einen Abrieb des gesamten Gesichtes mit einem Handtuch, welches überzeugende Ähnlichkeit mit dem Öllappen einer Autowerkstatt aufweist, krönend unterbrochen.
Auch wenn Carl hierbei einen leicht irritierten Eindruck hinterlässt, sobald es um Essensstände geht, kennt sein Wagemut keine Grenzen. Ich enthalte mich am ersten Tag dann doch lieber, die warnenden Worte unserer Professoren hallen in meinen Gehörgängen nach. Stattdessen beschränke ich mich auf im Smog einer Brücke beim Vorbeiflanieren gekaufte grüne Miniatur-Bananen, deren Schale ich so behutsam schäle, sodass meine dreckstarrenden Finger nur ja nicht das Fruchtfleisch berühren mögen! Bereits nach einem Tag sind jedoch alle Vorsichtsmaßnahmen über den Haufen geschmissen, es macht einfach zu viel Spaß, sich durch alles durch zu probieren. Immer nur „bottled water“ zu kaufen geben wir spätestens nach zwei, drei weiteren Tagen auf, da sich unser westlich geschultes Ökogewissen anhand der Plastik-Müllberge zu Wort meldet.
Eine unserer großen „Freizeitaktivitäten“ wird es zukünftig sein, uns hinter das Tor des Univer-sitätsgeländes zu begeben und unser Essen an den öffentlichen tiffin-Ständen zu genießen. Das Essen wird in herrlich geflochtenem Geschirr aus Blättern serviert, dessen Produktion eine der „Freizeitbe-schäftigungen“ der Mädchen der anliegenden Dörfer darstellt. Die Stände selber bestehen aus kleinen fahrbaren Wagen oder teils aus reetbedeckten Hütten, in denen immer Wasserkanister zum Händewaschen und Mundausspülen bereit stehen. Da mit der rechten Hand gegessen wird, sehen wir uns sogleich einer Übung gegenüber, die unsere kognitiven Fähigkeiten reichlich schult; immer wieder sind wir versucht, die linke, unreine, Hand zur Hilfe zu nehmen. Auch hier wird sich rasch zeigen, wie kontextabhängig diese Regel ist, denn „intellektuelle“(!) Inder essen „sogar mit dem Löffel“!!
Gleich am ersten Tag in Kalkātā darf ich mich über meine Unbedachtheit ärgern. Ich habe doch in meiner westlichen Konsumenten-Selbstverständlichkeit tatsächlich verdrängt, dass in Indien der „Mythos über das Hymen“ wohl noch existiert: Ich habe vergessen, Tampons einzupacken, - ein Luxusprodukt, dass in Indien scheinbar nirgends über den Ladentisch zu erhalten ist, wie mir Anne später berichtet. So ereilt mich im kāli-Tempel, indem sonst nur Ziegen blutig geopfert werden, meine eigene kleine „Blutgabe“. In meiner Verzweiflung, einen Ort in den Straßen zu finden, das Ganze etwas ungeschehen zu machen, darf sich Carl gleich als „Beschützer meiner Ehre“ beweisen, darf sich am Beginn einer Gasse postieren, um mich vor Blicken zu bewahren. Auch hier ein Akt der Unmöglichkeit. Der erreichte Effekt meines auffällig suchenden Verhaltens führt nur dazu, alle Bewohner der leer und verlassen wirkenden umliegenden Häuser an die Fenster zu treiben. Nun ja,  an eine öffentliche Toilette ist nicht zu denken.
Nach einem Tag in den Straßen Kalkātās nehmen wir nachts den Zug nach Sambalpur, um von dort nach Burla weiter zu reisen. Ehrlich gesagt, bin ich etwas enttäuscht in meiner „Gier“ nach Exotik und Abenteuer, denn auch hier geht alles sehr gesittet zu. Ich hatte mir die Fahrt überfüllter und lebhafter vorgestellt. Bis auf die Schwierigkeit für uns Externe, tatsächlich das richtige Gleis zu finden, den richtigen Fahrkartenschalter ausfindig zu machen, sind die Massen an Menschen nicht unüberschaubar, sondern eher geordnet wartende Grüppchen. Jeder Reiseführer warnt vor Diebstahl und wir schlafen sicherheitshalber auf unserem Gepäck, aber im Grunde fühle ich mich zu jeder Zeit sicher, regelrecht geborgen. Carl schläft durch, ich kann kaum ein Auge zu machen, beobachte stattdessen die zusteigenden Leute. Gegen morgens sehe ich immer mehr Mäd-chen in ethnischer Kluft einsteigen, oftmals in Zweiergruppen, sodass ich annehme, sie sind Wander-arbeiterinnen. Wie später noch oft der Fall sein wird, verhilft uns unsere Umgebung dazu, keine schlechte Erfahrung machen zu müssen. Zwei Mitreisende weisen uns im letzten Moment darauf hin, dies sei die Station, den Zug zu verlassen.

Am Sambalpur-Bahnhof wählt uns gleich ein rkā-Fahrer aus, jung, hip, modern angezogen. Er reißt sich da-rum, meinen fahrbaren Koffer zu er-greifen und schleift ihn über die brüchigen Straßen. Nachdem er ihn kurz vor dem Auto jedoch anheben muss, um ihn über Schotter zu stem-men und sein Gewicht zu spüren bekommt, lässt er ihn nonchalant stehen. Ah ja, ich darf ihn also durch-aus selbst in den Wagen heben! Seltsamerweise treffe ich dies Ver-halten immer wieder an: Als Frau wird Vieles von den Männern stell-vertretend für mich übernommen (was ich gerne selber tun würde), wenn es aber um körperliche An-strengungen geht, dann wird das eben den Frauen überlassen. In den kommenden Tagen beobachte ich Folgendes: Auf dem Bau hieven die Mädchen und Frauen die schweren Lasten, auf den Straßen sind die Frauen unterwegs mit Äxten in den Wald, Holz holen, in den Schulen (und zu Hause) schleppen die Mädchen die schweren Wassereimer, während die Jungs zusehen. Odisha trägt an allen Orten ein öffent-liches Bild von schwerstarbeitenden Frau-en zur Schau, und genauso eines von Kinderarbeit. Kindheit generell wird für mich ein sehr ambigues Thema werden, im Kontext einer meiner zukünftigen Kurse an der Uni werde ich über den Aufenthalt in einer NGO auch Schulen besichtigen kön-nen und so Einiges in Frage stellen müs-sen, was man hier der Fremden, da als fortschrittlich angesehen, stolz präsen-tiert. Doch viel scheint im Umschwung, viel Geld wird investiert in Aufklärung, die Schulen tragen Plaketten mit „education is our right“ und „punishment free zone“ und die Bäume an den Hauptstraßen zieren Schilder mit einer „child-hotline“ gegen Missbrauch und mit Appellen gegen Kinderarbeit.
Einige Tage lang überlege ich, ob ich mich bei meiner Feldforschung auf die überall präsente Bauindustrie kon-zentrieren soll. (Zumindest soll dies vorerst zu meinem beliebtesten Fotomotiv avancieren). 


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Wer hier noch nicht gelangweilt ist und die ganze Geschichte erfahren möchte, wie es mir weiter erging nach der Ankunft in Sambalpur mit neuen Erfahrungen, vielschichtigen Reisen und Krisen, Krisen, immer wieder Krisen, - und wer wissen möchte, ob ich doch zu guter Letzt noch ein Stück Gelassenheit lerne, -  der kann sich noch Teil 2 und 3 zu Gemüte führen.

( Für Teil 2 und 3 -> email an ethnofachschaft@hotmail.com )


[1] Eine Paste aus gelöschtem Kalk, geriebener Betelnuss und eine Gewürzmischung aus Kardamom, Anis, Koriander, manchmal Tabakpulver, Pfefferminz oder Kokos, werden in ein Betelblatt gewickelt und gekaut – angeblich als „Munderfrischer“. Das Ganze erzeugt eine typisch rot-braune Spucke, die die Zähne verfärbt und in ganz Asien, in ausgespuckter Form, Gebäude und Straßen ziert.
[2] Die durchschnittliche Mortalitätsrate liegt in Odisha für Frauen bei ca. 50 Jahren.