Annabell Körner –
Tbilisi, Georgien
Mobilitätssemester in Georgien (September
2013 bis Februar 2014)
Die Luft um mich herum ist schwer, ich rieche den Weihrauch, der, wie
es mir scheint, vor einer Ewigkeit in der Kirche verteilt wurde. Wie lange
stehe ich schon hier? Und wie lange werde ich hier noch stehen können? Endlich,
eine ältere Dame neben mir seufzt und holt ihr Handy aus der Tasche, um die
Uhrzeit zu überprüfen. 02:00 Uhr morgens. Bin ich wirklich erst drei Stunden
hier? In meinen Gedanken bedanke ich mich bei meiner Nachbarin für ihre Unruhe
– will ich als einzige Ausländerin in diesem Gottesdienst doch nicht dadurch
auffallen, dass ich ungeduldig die Uhrzeit überprüfe. Um mich herum raschelt
es. Auch den anderen werden langsam die Beine schwer. Ich sehe Menschen, die
sich unauffällig an die Wände anlehnen oder rastlos von einem Bein aufs andere
wackeln. Andere sind vollkommen konzentriert. Auch ich stehe ganz still, fast
bewegungslos, und versuche, den Handlungen des Priesters zu folgen, auch wenn
ich kaum verstehe, was dort vorne vor sich geht, und meine Gedanken immer
wieder abschweifen, und sich in den wunderschönen mehrstimmigen Gesängen des
Frauenchors und dem Flackern der Kerzen verlieren.
Seit fast fünf Monaten
lebe ich nun in Georgien, einem kleinen Land mitten im Kaukasus. Wenn der
Kaukasus in den deutschen Medien erscheint, wird er immer wieder mit dem
gleichen Attribut versehen: „wild“ – mag es nun auf die unberührte Natur im
Hochgebirge, die Lebensweise der Menschen in dieser Bergregion oder auch auf
die politische Situation in diesem Gebiet hinweisen, welches nach dem Ende der
Sowjetunion immer wieder von Sezessions- und Bürgerkriegen heimgesucht wurde.
Der „wilde“
Kaukasus
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Mir
selbst kommt Georgien nicht sonderlich wild vor, gerade hier in der Hauptstadt
nicht. Bei meiner Ankunft war ich sogar fast ein wenig enttäuscht, denn das
überwältigende Gefühl der Fremdheit, des Neuen und des Abenteuers, das ich aus
meinen letzten Auslandsaufenthalten kenne, blieb aus. Es ist mein dritter
längerer Aufenthalt in diesem Land. Alle wichtigen und weniger wichtigen
Sehenswürdigkeiten sind bereits bereist. Auch in Tbilisi, der Hauptstadt
Georgiens, welche ich für meinen Studienaufenthalt und meine Feldforschung
gewählt habe, habe ich schon mal ein paar Wochen gelebt. Vieles ist mir bereits
vertraut. Ich weiß, mit welcher Marschrutka ich zur Uni komme, wo ich welche
Produkte einkaufen kann und in welchem Restaurant das Essen besonders gut
schmeckt. Aus diesem Grund war eine meiner ersten Handlungen der Kauf eines
Chatschapuris, einer mit salzigem Käse gefüllten Teigtasche, die man in
Georgien an jeder Ecke bekommt, und deren Geschmack geradezu süchtig macht.
Die
Sameba-Kathedrale. Seit ihrer Fertigstellung
2004 ist sie die größte Kirche des
Südkaukasus
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Fast einen Monat hatte es gedauert,
bis sich dieser Wunsch erfüllte. Vielleicht habe ich bei meiner Suche auch
nicht deutlich genug gesagt, dass ich für meine Unterkunft natürlich auch gerne
bezahle und um welche Summe es sich handelt. Als Deutscher scheut man sich ja
manchmal sehr, über Geld zu sprechen. Als dies dann aber klar war, ging es
plötzlich ganz schnell. Ein holpriges Telefongespräch auf Georgisch, und einen
Tag später stand ich bei meiner Gastfamilie im Wohnzimmer. Hier musste noch ein
kleines Detail geklärt werden: Ob ich denn ein Zimmer (otachi), oder eine Familie (odschachi)
suche. Die beiden Wörter sind sich im Georgischen sehr ähnlich. Ein eigenes
Zimmer könne man mir zwar nicht anbieten, dafür aber das Leben in einer
Familie. Alle waren so nett und herzlich, dass ich zwei Tage später einzog. Und
plötzlich begann auch die Zeit, die ich in meinem ersten Monat hier vermisst
hatte. Das Leben in einer Familie mit sechs Kindern, vom Säugling bis zum
Teenager, die starke Präsenz der Religion im Alltag, das Fehlen eines eigenen
Zimmers und damit der Möglichkeit, einfach mal die Tür schließen zu können,
dafür aber die enge Einbindung in die Familie – nun war ich in der Fremde
angekommen.
Tschurtschchela
(eine georgische Süßigkeit)-Ziehen
mit der Mutter meines Gastvaters
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Meine Gastfamilie unterstützt mich sehr bei
meiner Forschung. Es ist ihnen wichtig, dass jemand über ihr Land schreibt, ein
Land, auf das sie sehr stolz sind, das aber im Westen kaum bekannt ist. Meine
Gastmutter wird nicht müde, mir bei unserem täglichen gemeinsamen Frühstück
immer wieder alles ganz genau und langsam zu erklären. Sie spricht mit mir über
die Heiligen, über die Erziehung ihrer Kinder, und über die Rolle des
orthodoxen Christentums in Georgien. Verständigen können wir uns nur auf
Georgisch. Es muss mühsam für sie sein, mir zuzuhören und tagtäglich die
gleichen Fehler zu berichtigen, doch das tut ihrer Herzlichkeit keinen Abbruch.
Meine achtjährige Bettnachbarin hat es sich zur Aufgabe gemacht, mein Georgisch
zu verbessern. Täglich bekomme ich Hausaufgaben von ihr und muss Kindergedichte
auswendig lernen. Im Gegenzug helfe ich ihr bei ihren Deutschhausaufgaben. Vier
Kinder der Familie lernen Deutsch, und mit den älteren kann ich mich auch auf
Deutsch recht gut verständigen. Mein Gastvater spricht etwas Englisch.
Ikonen
in der Wohnung meiner Gastfamilie
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Nicht nur georgisch-orthodox sein, sondern
wirklich religiös leben, das bedeutet hier: Sieben Gebete am Tag, Kirchbesuche
am Samstag Nachmittag und am Sonntag Morgen, welche bis zu vier Stunden, an
Feiertagen auch länger, dauern können, und das Einhalten der Fastentage am
Mittwoch und Freitag, beziehungsweise der Fastenzeit vor Weihnachten und
Ostern, welche mehrere Wochen andauern. Schon die Kleinsten werden ganz langsam
an diese Regeln gewöhnt.
Da nun meine letzten
Wochen in Georgien angebrochen sind und das Semester an der Universität beendet
ist, sodass ich viel Freizeit habe, organisiert mir meine Gastmutter fast
täglich Interviews mit Menschen aus ihrem Freundeskreis und aus ihrer Gemeinde.
Ich merke, wie ich immer stärker akzeptiert werde. Während ich in den ersten
Wochen den Gottesdienst nach einer Stunde verlassen musste, da ich als
Protestantin mit meiner Anwesenheit die liturgische Feier der Eucharistie
stören würde, darf ich nun die ganze Zeit bleiben. Vor kurzem hat mein
Gastvater bei seinem Priester sogar durchgesetzt, dass ich während des
Gottesdienstes die Segnung mit Öl auf der Stirn erhalten durfte, denn ich sei
ja quasi wie eine „Anwärterin“ zu sehen.
Ein
ehemaliges Hotel im Kurort Zqaltubo,
heute eine Unterkunft für Flüchtlinge aus
Abchasien
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Ich bin meiner Gastfamilie sehr dankbar, dass
sie sich so für meine Forschung einsetzt. Und ich freue mich, meine
Feldforschung zu einem Zeitpunkt durchgeführt zu haben, an dem ich nicht mehr
das Gefühl hatte, jedes Wochenende an die spannendsten Orte des Landes reisen
zu müssen, sodass ich tatsächlich die Möglichkeit hatte, im Hier und Jetzt mit
meiner Gastfamilie zu leben. Interessante Ausflüge habe ich trotzdem gemacht.
Und ich war überrascht, wie viele wunderschöne versteckte Orte sich auch nur
einen Tagesausflug um Tbilisi herum befinden, die aber auf kaum einer Touristenkarte
eingezeichnet sind, sodass ich malerisch gelegene Klöster, neu renovierte
Burgen, ehemalige sowjetische Badekurorte, Städte, deren wichtigsten
Verkehrsmittel halb verrostete Seilbahnen sind, und ganze Dörfer in der recht
blutigen Vorbereitung auf den folgenden Markttag für mich entdecken durfte.
Mein Aufenthalt in Georgien geht
dem Ende zu. Ich freue mich bereits auf deutsche Zentralheizungen,
ungefährliche Steckdosen und mein eigenes Zimmer. Aber ich weiß auch, dass ich
das Leben in meiner Gastfamilie vermissen werde und dass ich sicherlich
zurückkommen werden, und das nicht nur, um wieder mein tägliches Chatschapuri
essen zu können.
Landschaft bei Tbilisi |
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